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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman
Autoren: C.H.Beck
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legt mein Vater immer seine Hand auf meinenArm. «Hör auf», sagt er. In letzter Zeit scheinen das seine Lieblingsworte zu sein.
    Ich denke sehr viel an Helene, aber eigentlich darf ich nicht über sie sprechen. Nicht gegenüber Ma und Pa, meine ich. Obwohl es keine Vorschrift gibt. Ich glaube, das ist eher wie ein Gesetz.
    Die andere Sache, an die ich mich erinnere, ist, wie ich mit Helene in einem dunklen, feuchten Loch stecke. Irgendwie kopfüber. Ich weiß noch, dass ich Wasser in den Mund bekam. Vielleicht war es ein Brunnen, ist mein erster Gedanke.
    «Du bist nie in einen Brunnen gefallen», sagt Ma.
    «Dann vielleicht ein Grab», sage ich, «oder ein Kanal? Dauernd fallen Leute in irgendwelche Löcher», sage ich.
    Ma wird kreideweiß, als wäre ich der Frageteufel. Mein schöner Pa blickt mich an, und ich höre auf.
    Die Sache ist nämlich, dass Helene vor einem Zug gestorben ist. Das ist das Problem. Sie ist nicht gesprungen, ein Mann hat sie geschubst. Wir wissen nicht, wer es war, und die Polizei sagt, wie die Dinge stehen, werden wir es wohl nie erfahren.
    Ich war nicht da, als es passierte. Auch nicht Ma oder Pa. Warum sie auf dem Bahnsteig war, ist immer noch ein großes Rätsel. Eine Männergeschichte, glaube ich. Helene hatte viele Freunde, manchmal sogar welche aus anderen Städten. Sie war ziemlich begehrt. Sie hatte rotes Haar, das schönste Haar der Welt.
    Es passierte an einem Mittwoch, einem ganz gewöhnlichen Tag. Am helllichten Nachmittag. Ein Mann schubst Helene vor einen Zug, es ist unglaublich. Ich denke immer, es müsse ein Irrtum sein. Aber dann stimmt es doch.
    Glauben Sie an Flüche? Dass ein Fluch auf jemandem lasten kann, oder auf mehreren zugleich, eine Art Familienfluch? Müssen wir alle sterben?, frage ich mich. Wie? Und wann?
    Helene war auf dem besten Weg, Sängerin zu werden. Sie war schon eine Sängerin. Es gibt Aufnahmen. Pa hat sie mit seinem alten Tonband gemacht. Jetzt darf niemand sie mehr hören, sie sind das Gefährlichste auf der Welt. Auf einem der Bänder singt Pa mit Helene zusammen irgendein schnulziges Lied. Die beiden lachen mehr, als dass sie singen. Würde man das jetzt hören, sänge Pa mit einem Geist. Das Lachen brächte einen um.
    Ma sagt, die Aufnahmen seien verloren, aber ich weiß, wo sie die Bänder aufbewahrt. Und ich selbst habe auch Sachen versteckt. In meinem Zimmer, unterm Bett, liegen ein paar Schulhefte von ihr. Ich habe Briefe, Zeichnungen und Geburtstagskarten. Auch ein paar ausgedruckte E-Mails. Außerdem ist immer noch tonnenweise Zeug in ihrem Zimmer. Ein Mensch, sogar ein sechzehnjähriger, hinterlässt jede Menge Sachen. Lange Zeit war es mir unerträglich, irgendetwas davon anzusehen, aber dann wurde mir klar, es könnten Hinweise dabei sein. Inzwischen halte ich mich öfter in Hs Zimmer auf, aber nur, wenn ich allein zu Hause bin. Es ist ein besseres Zimmer als meines, und es würde mir nichts ausmachen, darin zu wohnen. Aber Ma würde das nie erlauben. Manchmal lasse ich die Tür zu Hs Zimmer offen, obwohl ich weiß, wie wütend sie das macht.
    Ich erinnere mich, einmal, als ich klein war und aus Hs Fenster schaute, flog ein Kolibri vorbei. Komm schnell, rief ich, aber bis Helene da war, war der Kolibri schon weg. Vielleicht kommt er wieder, sagte sie, und dann blieben wir beide fast eine ganze Minute lang wartend am Fenster stehen. Wahrscheinlich hatten wir nichts Besseres zu tun. Ich weiß nicht, warum, aber es macht mich rasend, diese Vorstellung, wie wir beide da am Fenster stehen und auf den blöden Vogel warten. Ich könnte schreien.
    Warum schubst jemand einen anderen Menschen vor einen Zug? Hat das eine Bedeutung für ihn, den Schubser? Die Erklärung dermeisten ist: ein Verrückter. Teuflische Stimmen haben ihm eingeflüstert, tu’s. Aber wie konnte er so schnell abhauen, frage ich. Das ergibt keinen Sinn. Zwei Männer auf dem Bahnsteig wollen versucht haben, ihn zu packen, aber er ist entwischt. Er hat sie geschubst, und weg war er. Die Polizei sagt, das passiere dauernd.
    Mir kommt es fast so vor, als wäre der Mann verschwunden, nachdem er es getan hatte. Als wäre das sein einziges Werk auf Erden gewesen. Helene zu töten. Und danach hätte er nichts mehr zu tun gehabt, als sich in Luft aufzulösen.
    Ich hasse ihn. Das Gefühl ist ungeheuerlich. Ich habe nie etwas Ähnliches empfunden. Wenn wir wüssten, wer es war, säße er im Gefängnis. Wir könnten hingehen und ihm Fragen stellen. Ma und Pa würden das nicht tun,
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