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Maschinenkinder

Maschinenkinder

Titel: Maschinenkinder
Autoren: Shayol Verlag
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sich auf den Po und ließ die Füße baumeln; erst verschnaufen; wobei ihm ein hölzerner Standrahmen auffiel, den er noch nie gesehen hatte.
    Er griff danach.
    Die Photographie war älter und an den Rändern verfärbt. Sie zeigte einen jungen Mann, winkend vor einem Fesselballon, der gerade zum Himmel aufstieg. Ringsum Schaulustige: Männer im Anzug, schwarz und mit Hut; die Damen in weißen Kleidern.
    Die Sonne schien.
    War das Rhombus? Im Schatten konnte Paul das Gesicht kaum erkennen, und so stand er auf, wollte nach dem Einmachglas greifen, doch Lisa war schon hereingekommen und stellte sich dazwischen. »Was machst du denn da? Wenn er spitzkriegt, dass du seine Sachen wegnimmst …«
    »Ist er das?«, fragte Paul ungerührt und trat beiseite, um sich an ihr vorbeizudrücken.
    »Geht dich nichts an. Gib her.« Sie packte das Bild – doch er riss es ihr aus den Fingern, die über das Glas quietschten. Kurz rangelten sie miteinander, Paul, im Schwitzkasten, hielt den Rahmen weit von sich gestreckt, ehe Lisa sich ganz auf ihn drauf warf und beide stolperten und umkippten:
    Rücklings prallte er gegen das Bettgestell, ihre Maske traf sein Augenglas, das splitterte, aber nicht brach – und Sterne schossen durch seinen Kopf wie Feuerwerksraketen, danach explodierte der Schmerz, und brüllend schälte Paul das Gummi vom Gesicht ab: »Geh runter von mir!«
    »Das … das wollte ich nicht«, stammelte Lisa, die hastig zur Seite plumpste. »Blutest du? Oh nein, du blutest.« Sie holte ein Schnupftuch aus der Tasche, zerknüllte es, drückte es ihm auf die Schläfe.
    »Aua, nicht so fest«, knurrte Paul und wehrte sich. »Blöde Kuh!«
    »Still jetzt. Leg den Kopf nach vorn.«
    Dabei fiel sein Blick auf den Rahmen, den er beim Sturz verloren hatte: zum Glück, das Glas war noch heil – nur die Fotografie verrutscht; und darunter klebte ein zweites Bild, das unter dem ersten versteckt worden war:
    Auf demselben Flugfeld stand eine junge Frau, die Hand zum Gruß erhoben, die andere auf einen Sommerhut gelegt, damit er nicht davonsegelte. Der Ballon wurde noch mit Sandsäcken beschwert, stattdessen schoss ein Propellerflieger im Tiefflug vorbei und wirbelte den Staub auf.
    Der Himmel, dieser endlos weite Himmel.
    Paul dröhnte der Kopf; und ein Druck im Bauch, als würde er fallen, herabtrudeln in die grelle, wolkenlose Fläche, um dann einen Bogen zu fliegen, die Tragflächen hochzureißen und durchzustarten, zur Sonne hin, näher, immer näher heran …
    Ihm wurde schwarz vor Augen.
    ***
    Außer der Kerze brannte kaum Licht; auch der Kamin war kalt. Sie saßen am Tisch, aßen eine Brotsuppe, die Lisa mit Leuchtpilzen gestreckt hatte: Ein geisterhafter Schein glänzte in ihren Augen; und Rhombus’ Gesicht, von unten bestrahlt, wirkte finster und alt, mit tiefen Falten gezeichnet.
    Keiner sagte ein Wort.
    Während sie ihre Teller leer löffelten, schaute Paul aus dem Fenster: kein Nebel mehr, der sich verflüchtigt hatte; sie hatten die Propeller abgestellt. Er betastete seine Schläfe, auf der ein großes Pflaster klebte, sie tat noch immer höllisch weh; dann griff er nach der Kelle, wollte sich einen Nachschlag einschenken, als Rhombus das Schweigen jäh unterbrach:
    »Einen Knall hörten wir nicht von der Bombe, nur ein ohrenbetäubendes Brausen, bis der Stromwind die Kuppel erreichte und seine Blitze über die Scheiben peitschten, manche so dick wie ein Arm. Drinnen, bei uns, kühlte sich die Luft schlagartig ab. Eiskalt, dass einem der Atem auf den Lippen gefror. In Panik liefen die Leute los, suchten Schutz in den Kellern und Bunkeranlagen, und da ging ein Ruck durch die Stadt, alles verschwamm vor den Augen, die tränten, als hätte man Gas reingekriegt. Es roch nach verschmorten Kabeln und Äther. Ich packte meine Frau am Ärmel, zerrte sie die Treppen der Stadtwache runter, wo wir ein Notlager eingerichtet hatten, mit Rationen, Wasser und einem Telegraphen für den Lagebericht, und plötzlich, ich schaute zurück, weil ich den Stoff ihres Kleids nicht mehr spürte – und da war sie einfach verschwunden. Weg! Wie vom Erdboden verschluckt. Ich machte kehrt, die Stufen hoch, weil ich dachte, sie könnte raus gerannt sein, doch ich fand sie nicht wieder, weder oben noch auf der Straße, die völlig ausgestorben schien. Und kein Geräusch, nichts. Im Dunkeln, weil schon Asche auf dem Kuppeldach lag, habe ich Haus für Haus und Bunker für Bunker abgesucht, aber dort war keiner mehr. Alles verlassen. Alle fort …
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