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Marx fuer Eilige

Marx fuer Eilige

Titel: Marx fuer Eilige
Autoren: Robert Misik
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226) Marx hat, völlig anders als die großen Utopisten von Thomas Morus bis zu denen des frühen Sozialismus, immer vermieden, sich die kommunistische Gesellschaft irgendwie auszumalen. Dies hat es auch, das nur nebenbei, den staatssozialistischen Doktrinären des untergegangenen Ostblocks erheblich erleichtert, zu behaupten, ihr Gesellschaftsmodell sei praktische Verwirklichung der Marxschen Theorie. Denn weil nirgendwo in Marx’ Werk die kommunistische Idealgesellschaft geschildert wurde, konnte sie praktischerweise den konkreten »real-sozia listischen « Gegebenheiten nicht entgegengestellt werden. Nur in einer berühmten Passage läßt er sich, der sich ansonsten strikt an sein schier biblisches Utopieverbot hielt, zu einer knappen Skizze des Lebens im Kommunismus hinreißen. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsteilung ist der Mensch entweder Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker, schreibt Marx – »wäh rend in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgens jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben und nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe …« (MEAW 1, S. 227) Doch wollen wir dieser – heute würde man sagen: feuilletonistischen – Passage nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Marx wird, wenn er sich im geheimen die kommunistische |68| Gesellschaft ausmalte, doch ein entwickelteres Gemeinwesen vor Augen gehabt haben. Und viel wahrscheinlicher ist ohnehin, daß er sie sich nicht ausmalte. »Die sogenannte ›sozialistische Gesellschaft‹ ist nach meiner Ansicht nicht ein ein für alle mal fertiges Ding, sondern, wie alle andern Gesellschaftszustände, als in fortwährender Verändrung und Umbildung begriffen zu fassen«, wies noch der alte Friedrich Engels, lange nach Marx’ Tod, alle Anfragen zurück, doch einmal genau zu schildern, wie er sich denn die zukünftige Gesellschaft vorstelle. Die würde einfach ein Produkt der Bedingungen sein, die ihr der Kapitalismus hinterlassen würde, wenn er ans Ende seiner Tage gekommen sei. Und diese Bedingungen waren für Marx und seine Gesinnungsfreunde so unbekannt, wie gleichzeitig sicher war, daß sich der Kapitalismus seinem Ende zubewegt.
    Diese Gewißheit wurde zu einem jener Erbteile des Marxismus, die am meisten Verwirrung gestiftet haben. Generationen von Marx-Exegeten und Revolutionären haben sich mit dieser Hinterlassenschaft herumgeschlagen, haben die tausenden eng beschriebenen Seiten seines Nachlasses durchforstet, die Formulierungen hin und her gewendet und sich die Bruchstücke gegenseitig an die Köpfe geworfen. Die entscheidende Frage, die die Thesen des historischen Materialismus unbeantwortet lassen, war nämlich folgende: Wenn die inneren Bewegungsgesetze des Kapitalismus die Spannungen und Widersprüche aufs Äußerste verschärfen, führt das »dann notwendig zur Revolution«, wie Marx in den »Ökonomisch-philosophi schen Manuskripten« (MEW Ergänzungsband 1, S. 510) formulierte? Marx hat diese These, daß die kapitalistische |69| Klassenherrschaft gleichsam naturnotwendig auf ihr Ende hinsteuere, nicht nur in dieser Jugendschrift formuliert, sondern auch noch später unterstrichen. So schrieb er etwa 1852 in einem Brief an seinen Freund Weydemeyer: »Was mich betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. Nachzuweisen, daß die
Existenz der Klassen
bloß an
bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion
gebunden ist; 2. Daß der Klassenkampf notwendig zur
Diktatur des Proletariats
führt …« 45
    Dies ist nun wahrhaftig eine explosive, brisante Erbschaft, an der die Marxisten nach Marx schwer zu tragen hatten. Wenn die
» wirkliche
Bewegung« der kapitalistischen Gesellschaftsformation »notwendig« zum Sturz der bürgerlichen Ordnung und zur Herrschaft des Proletariats führt, drängt sich sofort die Frage auf, welche Rolle dann den Kämpfenden jener Klassenkämpfe zukommt, die für Marx den Motor der Geschichte
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