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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Autoren: Jean-Claude Izzo
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dunklen, feuchten Haus, in dem seine Mutter sich, als sie mit ihm schwanger ging, mit zwei seiner älteren Brüder niedergelassen hatte. Seinen Vater, José Manuel, hatten die Franco-Anhänger erschossen. Immigranten, Exilanten —sie lande - ten alle eines Tages in einer dieser Gassen, die Taschen leer und das Herz voller Hoffnung. Als Lole mit ihrer Familie ankam, gehörten Manu und er selbst, mit sechzehn Jahren, schon zu den Großen. Das ließen sie die Mädchen jedenfalls glauben.
    Schon seit dem letzten Jahrhundert galt es als Schande, im Viertel um die Rue du Panier zu leben. Das Viertel der Seeleute und Huren. Das Krebsgeschwür der Stadt. Das große Bordell. Für die Nazis, die es nur zu gern zerstört hätten, ein Herd der Entartung des Abendlandes. Sein Vater und seine Mutter hatten die Demütigung erlebt. Der Aus - weisungsbefehl kam mitten in der Nacht. Am 24. Januar 1943. Für zwanzigtausend Personen. Hastig wurden ein paar Habseligkeiten auf einen Karren geworfen. Gewalttätige französische Gendarmen und spöttische deutsche Soldaten. Im Morgengrauen mussten sie den Karren unter den Augen der Leute, die auf dem Weg zur Arbeit waren, über die Canebière ziehen. In der Schule zeigte man mit dem Finger auf sie, sogar die Arbeitersöhne aus dem Viertel Belle-de-Mai. Aber nicht mehr lange. Sie würden ihnen die Finger brechen! Ihre Körper und Klamotten trugen den muffigen Geruch des Viertels, das wussten sie, Manu und er. Dem ersten Mädchen, das er geküsst hatte, saß dieser Geruch tief im Hals. Aber sie machten sich nichts daraus. Sie liebten das Leben. Sie waren schön. Und sie hatten starke Fäuste.
    Er stieg die Rue du Refuge wieder hinab. Etwas weiter unten diskutierte eine Gruppe von sechs vierzehn-bis siebzehnjährigen Beurs. Neben ihnen ein funkelnagelneues Mofa. Wachsam sahen sie ihn näher kommen. Ein neues Gesicht im Viertel bedeutet Gefahr. Bulle. Spitzel. Oder der neue Eigentümer eines renovierten Hauses, der sich bei der Stadtverwaltung über die Unsicherheit beschweren würde. Dann kämen Bullen, Kontrollen, Vernehmungen auf der Wache, vielleicht Schläge. Schikanen. Auf ihrer Höhe angekommen, warf er demjenigen, der der Anführer zu sein schien, einen Blick zu. Einen direkten, offenen Blick. Ganz kurz. Dann ging er weiter. Niemand rührte sich. Sie hatten sich verstanden.
    Er überquerte die Place de Lenche, die verlassen dalag, und stieg zum Hafen hinunter. Bei der ersten Telefonzelle machte er Halt. Batisti nahm ab.
    »Ich bin ein Freund von Manu.«
    »Hallo, mein Lieber. Komm doch auf einen Aperitif vorbei, morgen gegen eins im Péano. Ich freue mich drauf, dich zu sehen. Ciao, mein Sohn.«
    Er legte auf. Batisti war nicht gesprächig. Keine Zeit, ihm zu sagen, dass er ihn lieber woanders getroffen hätte. Überall, nur nicht dort. Im Péano. Der Bar der Maler. Ambrogiani hatte seine ersten Leinwände dort aufgehängt. Andere hatten es ihm gleichgetan. Alles blasse Imitatoren. Es war auch die Bar der Journalisten. Alle Tendenzen waren dort vertreten von Le Provençal über La Marseillaise und A.F.P. bis zur Libération. Der Pastis schlug eine Brücke zwischen den Männern. Nachts warteten sie dort den Redaktionsschluss ab und gingen dann im hinteren Saal Jazz hören. Petrucciani, Vater und Sohn, waren dorthin gekommen, zusammen mit Aldo Romano. Nächte waren das gewesen, in denen er sein Leben zu ergründen versuchte. In jener Nacht hatte Harry am Klavier gesessen.
    »Man versteht nur, was man will«, hatte Lole gesagt.
    »Genau. Und ich für meinen Teil verspüre das dringende Bedürf - nis durchzublicken.«
    Manu war mit der x-ten Runde zurückgekommen. Nach Mitternacht wurde nicht mehr gezählt. Drei doppelte Scotchs. Er hatte sich hingesetzt und sein Glas gehoben, lächelnd unter seinem Schnurrbart.
    »Auf das Liebespaar.«
    »Halt bloß die Klappe«, hatte Lole gesagt.
    Er hatte euch angesehen wie seltene Tiere und sich dann in der Musik verloren. Lole sah dich an. Du hattest dein Glas geleert, langsam und bestimmt. Deine Entscheidung war gefallen. Du wür - dest weggehen. Du bist aufgestanden und schwankend hinausge - gangen. Du bist gegangen. Auf und davon. Ohne ein Wort des Abschieds zu Manu, dem einzigen Freund, der dir geblieben war. Ohne ein Wort zu Lole , die gerade zwanzig geworden war und die du liebtest, die ihr liebtet. Kairo, Dschibuti, Aden, Harar. Die Reiseroute eines überalterten Jugendlichen. Dann die verlorene Un - schuld. Von Argentinien nach Mexiko. Und
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