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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Préfecture, Ecke Rue Armeny, bis Madrague de Montredon nehmen. Von dort ging es mit einem alten Automobil weiter, dessen Chauffeur das Rentenalter weit über - schritten hatte. Als Manu, Ugo und ich knapp sechzehn waren, begannen wir hinauszufahren. Mädchen nahmen wir nie mit. Die Hütte gehörte uns, sie war unsere Zuflucht. Wir schleppten all unsere Schätze dorthin: Bücher, Schallplatten. Wir erfanden unsere eigene Welt nach unseren Maßstäben und Vorstellungen. Ganze Tage verbrachten wir damit, uns die Abenteuer des Odysseus vor - zulesen. Dann, nach Einbruch der Dunkelheit, saßen wir schwei - gend auf den Felsen und träumten von den Sirenen mit den schönen Haaren, die »zwischen den schwarzen, mit weißem Schaum bedeckten Felsen« sangen. Und wir verfluchten ihre Mörder.
    Unser Interesse an Büchern weckte Antonin, den alten anarchistischen Antiquar am Cours Julien. Wir schwänzten die Schule, um ihn zu besuchen. Er erzählte uns Abenteuer-und Pira ten ge - schich t en. Von der Karibik, vom Roten Meer, von der Südsee ... Manchmal hielt er inne, griff nach einem Buch und las uns einen Abschnitt daraus vor. Als Beweis für die Geschichten, die er uns auftischte. Dann schenkte er es uns. Das Erste war Lord Jim von Joseph Conrad.
    Dort hörten wir auch zum ersten Mal Ray Charles. Auf Gélous altem Plattenspieler. Es waren die 45er-Scheiben des Konzerts von Newport. What'd I Say un d I Got a Woman. Irre. Immer und immer wieder drehten wir die Platte um.
    Honorine hielt das nicht mehr aus. »Heilige Mutter! Wollt ihr uns in den Wahnsinn treiben!«, rief sie von der Terrasse. Und die Fäuste in die kräftigen Hüften gestemmt, drohte sie, sich bei meinem Vater zu beschweren. Ich wusste wohl, dass sie ihn seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr gesehen hatte, aber so wütend wie sie war, trauten wir ihr alles zu. Das brachte uns zur Ruhe. Außerdem mochten wir Honorine gern. Sie kümmerte sich immer um uns, kam vorbei, um zu sehen, »ob wir nichts brauchten«.
    »Wissen eure Eltern, dass ihr hier seid?«
    »Klar«, antwortete ich.
    »Und sie haben euch kein Picknick mitgegeben?«
    »Sind zu arm.«
    Wir brachen in Gelächter aus. Sie zuckte die Achseln und ging lächelnd wieder hinüber. Eine Komplizin wie eine Mutter; Mutter von drei Kindern, die sie nie gehabt hat. Dann kam sie wieder mit einem Nachmittagsimbiss oder einer Fischsuppe, wenn wir am Samstagabend zum Schlafen blieben. Den Fisch hatte Toinou, ihr Mann, gefangen. Manchmal nahm er uns in seinem Boot mit. Einen nach dem anderen. Er war es, der mich auf den Geschmack der Fischerei brachte. Jetzt lag sein Boot, die Tremolino, unter meinem Fenster.
    Wir führen zur Fischerhütte, bis die Armee uns trennte. Wir hatten unsere Ausbildung gemeinsam begonnen. In Toulon, dann in Fréjus, in der Kolonialarmee, mitten unter Gefreiten mit Schmissen im Gesicht und Medaillen bis über beide Ohren. Unter Überlebenden aus Indochina und Algerien, die immer noch davon träumten, wieder zuzuschlagen. Manu war in Fréjus geblieben. Ugo ging nach Nouméa. Und ich nach Dschibuti. Danach waren wir nicht mehr dieselben. Wir waren Männer geworden. Enttäuscht und zynisch. Auch ein bisschen verbittert. Wir hatten nichts. Nicht mal einen Berufsschulabschluss. Keine Zukunft. Nur das nackte Leben. Und ein Leben ohne Zukunft war noch weniger als gar nichts.
    Die kleinen Drecksjobs ließen wir bald wieder fallen. Eines Morgens hatten wir uns bei Kouros vorgestellt, einem Bauunternehmer im Tal von Huveaune an der Straße nach Aubagne. Wir schauten sauer drein, wie immer, wenn wir versuchten, durch Ma-lochen wieder auf die Beine zu kommen. Am Vorabend hatten wir unser ganzes Erspartes beim Poker verjubelt. Wir mussten früh aufstehen, den Bus nehmen, bluffen, um nicht bezahlen zu müssen, einen Passanten um Zigarettenstummel anpumpen. Ein echter Sklavenmorgen. Der Grieche bot uns 142 Francs 57 die Woche. Manu erbleichte. Es war nicht so sehr der lächerliche Lohn, der ihn aufbrachte, als die 57 Centimes.
    »Ist das Ihr Ernst, mit den 57 Centimes, M'sieur Kouros?«
    Der Blutsauger sah Manu an, als hätte er den Verstand verloren, dann Ugo und mich. Wir kannten unseren Manu. Er nahm kein Blatt vor den Mund.
    »Nicht 56 oder 58, oder vielleicht 59? Na? Wirklich 57? 57 Centimes?«
    Kouros bestätigte, er begriff nichts. Das sei ein guter Lohn, meinte er. 142 Francs 57 Centimes. Manu verpasste ihm eine Ohrfeige. Kräf - tig und gut platziert. Kouros fiel vom Stuhl. Die Sekretärin stieß
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