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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Autoren: Jean-Claude Izzo
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gelaufen. Wir mussten im gleichen Alter sein. Vierzehn. Sie kamen auf uns zu, ein fieses Grinsen auf den Lippen. Gélou drückte meinen Arm fester, und ich spürte die Wärme ihrer Brust an meiner Hand.
    Als wir auf ihrer Höhe waren, trennten sie sich. Der Größere hängte sich an Gélous Seite, der Kleinere an meine. Er rempelte mich mit der Schulter an und lachte laut.
    Ich ließ Gélous Arm los: »He, du Scheißspanier!«
    Er drehte sich überrascht um. Ich verpasste ihm einen Faustschlag in den Magen, er krümmte sich. Dann richtete ich ihn mit einer Linken mitten ins Gesicht wieder auf. Einer meiner Onkel hatte mir ein bisschen Boxen beigebracht, aber ich prügelte mich zum ersten Mal. Er lag auf dem Boden und rang nach Atem. Der andere hatte sich nicht gerührt. Gélou auch nicht. Sie sah zu. Verängstigt. Und fasziniert, glaube ich.
    Ich rückte drohend näher: »Na, du Scheißspanier, hast du genug?«
    »Was fällt dir ein, ihn so zu nennen«, sagte der andere in meinem Rücken.
    »Was bist denn du für einer? Iraker?«
    »Was hat das damit zu tun?«
    Ich fühlte den Boden unter meinen Füßen nachgeben. Ohne aufzustehen, hatte er mir ein Bein gestellt. Ich fand mich auf dem Hintern wieder. Er warf sich auf mich. Ich sah, dass seine Lippe gerissen war, dass er blutete. Wir wälzten uns auf dem Boden. Der Gestank nach Pisse und Scheiße stieg mir in die Nase. Am liebsten hätte ich geheult. Aufhören, meinen Kopf an Gélous Brust legen. Dann merkte ich, wie mich jemand kräftig am Rücken zog und mir Ohrfeigen verpasste. Ein Mann trennte uns wie Straßenjungen und drohte, dass wir im Knast landen würden. Ich habe sie nicht wieder gesehen. Bis September. In der Berufsschule. Ugo schüttelte mir die Hand, dann Manu. Wir sprachen von Gélou. Für sie war sie die Schönste des ganzen Viertels.
    Es war nach Mitternacht, als ich nach Hause kam. Ich wohnte außerhalb von Marseille. In Les Goudes, dem vorletzten kleinen Hafen vor den Felsbuchten. Man folgt der Corniche bis zum Strand von Roucas Blanc, dann geht es am Meer entlang weiter. Vieille-Chapelle. Pointe-Rouge. Campagne Pastrée. Grotte-Roland. Stadt - teile, aber immer noch Dörfer. Dann Madrague de Montredon. Da hört Marseille auf, könnte man glauben. Eine kleine, gewundene, in weißen Stein gehauene Straße zieht sich über dem Meer dahin. Am Ende liegt der Hafen von Les Goudes im Schutz von ausgedörrten Hügeln. Einen Kilometer weiter endet die Straße. In Callelongue, in der Sackgasse Des Muets. Dahinter die Buchten von Sormiou, Morgiou, Sugitton, En-Vau. Wahre Wunder, wie man sie an der ganzen Küste nicht noch einmal findet. Zum Glück kann man dort nur zu Fuß oder mit dem Boot hinkommen. Dahinter, weit dahinter, liegt der Hafen von Cassis. Mit seinen Touristen. Mein Haus ist eine kleine Fischerhütte, wie fast alle Häuser hier. Ziegelsteine, Bretter und ein paar Dachziegel. Meins stand auf den Felsen über dem Meer. Zwei Räume. Ein kleines Schlafzimmer und eine große Wohn - küche, mit einfachem Gerumpel möbliert. Eine Filiale der Emmaus-Gemeinschaft, die mit Sperrmüll handelt. Ich hatte mein Boot acht Stufen weiter unten festgemacht, ein Fischerboot mit spitzem Bug, das ich meiner Nachbarin Honorine abgekauft hatte. Die Hütte hatte ich von meinen Eltern geerbt. Sie war ihr einziges Gut. Und ich war ihr einziger Sohn.
    Samstags kam dort die ganze Familie zusammen. Es gab große Platten mit Nudeln in Sauce, kleinen Fleischrouladen und in Sauce gegarten Fleischbuletten. Die Räume waren vom Duft der Tomaten mit Basilikum, Thymian und Lorbeer erfüllt. Roseflaschen machten unter Gelächter die Runde. Am Ende der Mahlzeiten wurde immer gesungen, zuerst Lieder von Marino Marini und Renato Carosone, dann Volkslieder. Und zum Schluss sang mein Vater jedes Mal Santa Lucia.
    Anschließend spielten die Männer die ganze Nacht Karten. Bis einer ärgerlich sein Blatt hinschmiss. »Verdammt, dem werden wir Blutegel setzen müssen, so wie der uns aussaugt!«, rief jemand. Und das Gelächter brach erneut los. Die Matratzen lagen auf dem Boden. Wir teilten uns die Betten. Wir Kinder schliefen quer im selben Bett. Ich legte meinen Kopf an Gélous knospende Brüste und schlief glücklich ein. Wie ein Kind. Mit den Träumen eines Großen.
    Als meine Mutter starb, hatten die Feiern ein Ende. Mein Vater setzte keinen Fuß mehr in die Fischerhütte. Dorthin zu gelangen, war vor dreißig Jahren noch eine kleine Weltreise. Wir mussten den 19er-Bus an der Place de
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