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Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Titel: Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Helene Luise Köppel
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einem schrecklichen Keuchen fast über mich fiel, spürte ich, wie meine Hand nass und klebrig wurde. Instinktiv wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Er musste wohl krank sein oder doch zumindest so stark betrunken, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Wie der alte Pierre, unser Dorfsäufer, der, wenn er nicht gerade im Gefängnis saß, oftmals bewusstlos vor dem Brunnen lag.
    Beinahe ebenso erschöpft lag der Krämer mit seinen Kopf auf meiner Schulter. Mit all meiner Kraft schob ich ihn zur Seite, um mich endlich von seiner Nähe zu befreien. Sollte er doch seinen Rausch bei seiner Frau ausschlafen!
    „Kann ich jetzt gehen, Monsieur, meine Leute warten auf mich!“ rief ich laut und mutig.
    „Schweig!“ herrschte er mich an und rappelte sich mühsam hoch. „Du wirst zu keiner Menschenseele, auch nicht zum Abbé, über deine Verrichtung bei mir reden. Sonst werde ich deinen Leuten erzählen, welch frühreifes Früchtchen du bist! Ein Mädchen, das fremden Männern in die Hose langt! Dafür kommst du in die Hölle. Hast du mich verstanden?“
    Ich nickte erschrocken.
    „Gut“, sagte er, „ich gehe jetzt vor, und du zählst bis zehn, und dann folgst du mir und wartest brav vor der Ladentür. Dann bringe dir das Tagebuch heraus. vierhundert Centimes Verlust! Naja – sagen wir, du hast es dir recht anständig verdient, he he he!“
    Mit einem aufgeregten Meckern knöpfte er seine Hose sorgfältig zu. Jetzt, wo meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich das Ding erkennen, dem ich einen Dienst hatte erweisen müssen. Barthèlèmy hatte ein ähnliches in der Hose, wenngleich dieses eher klein und verschrumpelt war.
    Monsieur Chalet warf mir einen alten Lappen zu: „Damit kannst du dir die Hand abwischen!“ sagte er ungerührt und stieg, jetzt völlig nüchtern, wie es schien, die Treppe hoch.
    Ich zählte gewissenhaft bis zehn.
    Als er mir das Buch und den Stift herausreichte und ich ihm, wie vereinbart, das Geld in die Hand drückte, erschrak ich nicht schlecht. Monsieur Chalet forderte den Zettel, den seine Frau geschrieben hatte, zurück. Er selbst hatte in Windeseile eine neue Rechnung für die Großmutter ausgestellt und die Beträge noch einmal addiert. Auch wenn das Tagebuch spottbillig war, musste ich ich zu Hause Farbe bekennen. Es stand ja alles geschrieben, schwarz auf weiß, Schande und Schmach!
    In meinem Kopf war ein großes Durcheinander. Wie gehetzt rannte ich die Dorfgasse entlang, bis ich zu der alten Weide am Bach kam. Unter ihren schattigen Zweigen ließ ich mich ins Gras fallen. Die Grillen zirpten, und eine Entenfamilie watschelte, ohne mich zu beachten, zu meinen Füßen vorüber. Verstört besah ich mir noch einmal das Buch und den vermaledeiten Zettel. Das Tagebuch gefiel mir nun längst nicht mehr so gut wie noch eine Stunde zuvor. Im Gegenteil, es brannte mir regelrecht in der Hand. Selbst die goldenen Engelchen schienen aus ihren runden Mündern unentwegt zu rufen: „Marie, die reine Magd, Marie ...“
    Am liebsten hätte ich das Tagebuch dem besoffenen Krämer vor die Füße geworfen und die hundert Centimes zurückgefordert. Mit spitzen Fingern, die Engel weitgehend ignorierend, beförderte ich das Buch wieder in meinen Korb, stand auf und lief weiter. Je näher aber Couiza rückte, desto verzweifelter wurde ich. Ich schlug mich in die Büsche, um Wasser zu lassen. Auch die Tränen flossen reichlich. Mit Diebstahl war nicht zu spaßen – und anders würde die Familie die Sache nicht ansehen, hundert Centimes hin und hundert Centimes her. Der Stock würde zum Einsatz kommen! Dass ich dem Krämer außerdem einen „Gefallen“ erwiesen hatte, verkomplizierte die ganze Angelegenheit. Instinktiv ahnte ich, dass es Unrecht war, was ich getan hatte. Aber war es nicht eigentlich allein sein Unrecht? Sollte er doch in der Hölle schmoren, der versoffene Kerl.
    Ich ging nicht nach Hause an jenem Nachmittag. Weder am Abend noch in der Nacht. Erst als das ganze Dorf ausströmte, um mich – oder vielleicht meine verstümmelte Leiche – zu suchen, kroch ich, halbverdurstet, aus meinem Versteck im Wald hervor. Glücklicherweise hatte es in dieser Nacht kein Gewitter gegeben.
    Der Stock kam zum Einsatz, wie ich es vorausgesehen hatte. Das Tagebuch musste ich auf der Stelle dem Krämer zurückbringen. Und das war das Beschämendste an der ganzen Sache gewesen: Monsieur Chalet hatte, als ich an der Seite von Barthélémy völlig zerknirscht vor ihm stand, angefangen,
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