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Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Maigret - 35 - Maigrets Memoiren

Titel: Maigret - 35 - Maigrets Memoiren
Autoren: Georges Simenon
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Tonleiter, die jede Nuance seiner Gedanken widerspiegelte. Seine besondere Art von Ironie wiederum wurde nur von jenen wahrgenommen, die ihn gut kannten, während sie bei den anderen manchmal den Eindruck erweckte, er sei naiv.
    Er sprach mit tiefernster Stimme, als handelte es sich um eine wichtige Angelegenheit, eine hochgestellte Persönlichkeit.
    »Monsieur Sim benötigt für seine Romane jede mögliche Auskunft über die Arbeit der Kriminalpolizei. Wie er mir soeben dargelegt hat, findet ein großer Teil der menschlichen Tragödien in diesem Haus ein Ende. Er hat mir auch erklärt, es gehe ihm nicht in erster Linie darum zu sehen, wie das Räderwerk der Polizei im einzelnen funktioniert, denn die entsprechenden Unterlagen hat er sich schon anderswo beschaffen können; er möchte vor allem die Atmosphäre kennen, in der sich die Operationen abwickeln.«
    Ich bedachte den jungen Mann nur mit flüchtigen Blicken. Er mochte etwa vierundzwanzig sein, war hager, hatte fast so langes Haar wie der Chef, und das wenigste, was ich von ihm sagen kann, ist, daß er an nichts zu zweifeln schien – zumindest nicht an sich selber.
    »Würden Sie bitte als Gastgeber amten, Maigret?«
    Ich wollte mich schon zur Tür wenden, da hörte ich diesen Sim sagen:
    »Verzeihung, Monsieur Guichard, aber Sie haben vergessen, dem Kommissar zu erklären …«
    »Ach ja, richtig! Monsieur Sim ist, wie er soeben betont hat, nicht Journalist. Es besteht keinerlei Gefahr, daß er in Zeitungen über Dinge berichtet, die nicht veröffentlicht werden dürfen. Er hat mir versprochen, ohne daß ich ihn darum bitten mußte, daß er das, was er hier zu sehen oder zu hören bekommt, nur in seinen Romanen verwenden wird und zwar in einer so veränderten Form, daß uns daraus keine Unannehmlichkeiten erwachsen können.«
    Ich höre heute noch, wie der große Chef, den Kopf über seine Post gebeugt, todernst hinzufügte:
    »Sie dürfen ihm vertrauen, Maigret. Er hat mir sein Wort gegeben.«
    Dennoch spürte ich schon damals, was mir in der Folge bestätigt wurde: Xavier Guichard hatte sich blenden lassen. Nicht nur von der kecken Jugend seines Besuchers, sondern aus einem Grund, den ich erst später erfahren sollte. Der Chef hatte außer seinem Beruf eine Leidenschaft: die Archäologie. Er gehörte mehreren wissenschaftlichen Vereinigungen an und hatte ein dickes Buch (das ich nie gelesen habe) über die Urgeschichte der Pariser Region geschrieben.
    Unser Sim wußte das – ich frage mich, ob es ein Zufall war –, und natürlich hatte er nicht versäumt, mit Guichard darüber zu plaudern.
    War dies der Grund, weshalb man mich persönlich bemühte? Es vergeht kaum ein Tag, da nicht irgendein Beamter vom Quai den Bärenführer spielen muß. Die Besucher sind meist prominente Ausländer oder Leute, die in irgendeiner Funktion der Polizei ihres Landes angehören, bisweilen auch nur einflußreiche Wähler aus der Provinz, die stolz eine Empfehlung ihres Abgeordneten vorweisen.
    Es ist eine Routine daraus geworden. Was uns noch fehlt, ist ein gedruckter Reiseführer wie für die historischen Denkmäler, den jeder von uns mehr oder weniger auswendig gelernt hat.
    Aber für gewöhnlich genügt ein Inspektor, und ein Gast muß schon eine gewisse Berühmtheit erlangt haben, damit man einen Dienstchef von seiner Arbeit wegholt.
    »Wenn Sie wollen«, sagte ich, »gehen wir zuerst in den Erkennungsdienst hinauf.«
    »Falls es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber mit dem Wartezimmer beginnen.«
    Das war meine erste Überraschung. Er sagte es übrigens freundlich, mit einem entwaffnenden Blick.
    »Sie verstehen«, fuhr er fort, »ich möchte genau den gleichen Weg gehen wie Ihre Kunden.«
    »In diesem Fall sollten wir bei der Polizeiwache, im ›Dépôt‹, anfangen, weil die meisten dort die Nacht verbringen, ehe man sie uns vorführt.«
    Gelassen erwiderte er:
    »Im ›Dépôt‹ bin ich letzte Nacht gewesen.«
    Er machte sich keine Notizen. Er hatte weder Block noch Füllfeder bei sich. Er verweilte mehrere Minuten im verglasten Warteraum, wo die schwarz umrandeten Fotos der Polizeibeamten hängen, die im Dienst umgekommen sind.
    »Wie viele sterben im Durchschnitt jedes Jahr?«
    Dann fragte er, ob er mein Büro sehen dürfe. Zufällig waren damals gerade Handwerker damit beschäftigt, das Zimmer neu herzurichten. Ich hauste daher vorübergehend in einem ehemaligen Büro im Untergeschoß. Es war eine denkbar altmodisch eingerichtete Amtsstube, von oben bis
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