Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lycana

Lycana

Titel: Lycana
Autoren: Ulrike Schweikert
Vom Netzwerk:
zu ihrer Mündung, in die Nordsee hinaus durch den Kanal und dann hinauf in Irlands Norden!
     
    Die fünfte Nacht auf See brach an. Die Tweedsale hatte die Straße von Dover passiert, war an der Südküste Englands entlanggesegelt und fuhr nun zwischen Wales und Irland weiter nach Norden. Am Morgen hatte sie im Hafen von Dublin angelegt, nun hielt das Schiff auf eine Insel zu, die mitten aus der Irischen See ragte.  Als das letzte Licht des Tages schwand, ließ der Kapitän vor der felsigen Küste die Ankerketten hinabrasseln und teilte die Schicht für die Nacht ein. Dann zog er sich in seine Kabine zurück und legte das Schicksal des Schiffes und seiner Fracht in die Hände der Wachen. Wie seine Bark stammte auch der Kapitän aus Glasgow. Die Tweedsale war die erste eiserne Viermastbark, die je gebaut worden war. Sie war viel kleiner als die hölzernen Vorgänger, aber auch wendiger und robuster in den stürmischen Breiten des Nordmeeres. Beruhigt schlief der Kapitän ein. Vielleicht wären seine Träume nicht so friedlich gewesen, hätte er gewusst, was in den Kisten in zwei seiner Frachträume ruhte. Im vorderen Raum war alles ruhig, doch in dem achtern gelegenen regte sich plötzlich etwas. Ein Deckel wurde angehoben. Dann setzte sich eine Gestalt auf und sah sich um. Eine Ratte huschte eilig davon und brachte sich zwischen den anderen Kisten in Sicherheit. Von dort beobachtete sie die Gestalt mit den menschlichen Umrissen, in deren Augen ein seltsam rötlicher Schimmer glomm. Nein, mit einem Menschen hatte sie es hier nicht zu tun. Außerdem hatte die Ratte die Erfahrung gemacht, dass Menschen - wenn ihre Körper erst einmal in geschlossenen Kisten aufbewahrt wurden - sich nicht wieder aus diesen erhoben.
    Franz Leopold sah sich um. Es war dunkel im Frachtraum. Ein Mensch hätte nicht einmal die Hand vor Augen erkannt, doch er konnte verschiedene Kisten, Säcke und Fässer ausmachen. Es roch nach feuchtem Holz, nach Salz und Teer, aber auch nach der Ladung. Franz Leopold glaubte, Pfeffer und Anis wahrnehmen zu können, Tee und Kakaobohnen. Er rümpfte die Nase. War das einem Dracas angemessen? Wie ein Sack Pfeffer oder eine Kiste Tee im Bauch dieses Seelenverkäufers transportiert zu werden?
    So leise wie möglich schlich er zur Tür. Franz Leopold tastete nach den Gedanken der anderen Dracas, die ebenfalls erwacht sein mussten, sobald die Sonne draußen hinter dem Horizont versunken war. Er wäre gut beraten, seine freudige Erwartung vor ihnen zu verbergen, damit sie nicht bemerkten, dass einer  ihrer Schützlinge sich gerade davonmachte. Vor allem Matthias zu täuschen, war nicht leicht.
    Geräuschlos schloss Franz Leopold die Tür und blieb dann noch eine Weile in dem dunklen Gang stehen. Im Frachtraum regte sich nichts. Gut! Sie glaubten ihn noch immer in seiner sicher vernagelten Transportkiste. Ein überlegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Der neue Unreine in Wien hatte seinen Drohungen und einem üppigen Bestechungsgeld nachgegeben und für seine Kiste viel zu kurze Nägel verwendet, die den Deckel nicht richtig verschlossen. Leichtfüßig eilte Franz Leopold die steile Leiter empor und dann einen Gang entlang. Zwei Bordwachen kamen ihm entgegen, doch das beunruhigte ihn nicht. Menschen waren so blind in ihrer Zuversicht, dass es das, was sie nicht wahrhaben wollten, auch nicht geben konnte.
    Der Vampir drückte sich in eine Nische und ließ die beiden Männer passieren. Der Geruch von warmer Haut und Schweiß stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn allzu deutlich an seinen Hunger. Er spürte, wie sich seine Eckzähne vorschoben, und konnte nur mühsam dem Drang widerstehen, den beiden zu folgen und sich ihr Blut zu nehmen. Wenn er das tat, riskierte er weit mehr als eine Rüge für das unerlaubte Verlassen seines Sarges. Jungen Vampiren war es verboten, auf die Jagd zu gehen und Menschenblut zu trinken. Dass dies nicht nur eine grausame Schikane der Älteren war, sondern dem Schutz der Jüngeren diente, hatte Franz Leopold selbst schmerzhaft erfahren müssen. Seine Gier hätte ihn fast mit in den Tod gesogen! Und nun, da er einmal die Süße menschlichen Blutes gekostet hatte, war der Verzicht noch grausamer. Franz Leopold schluckte trocken und wandte sich mit einem Ruck ab. Daran durfte er jetzt nicht denken. Er wollte nur für eine Weile der engen Kiste entgehen und die Freiheit der Nacht genießen.
    Er stieß die Tür auf, trat an die Reling und ließ den Blick erst um den Bug, zurück zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher