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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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hat immer noch ihren künstlich beschwingten Ton.
    Alles, was heute passiert ist, ist einfach genauso widerlich wie dieses pappige Essen. Graues Wetter, der schmatzende Schulleiter, die mausige Englischlehrerin, ich alleine auf dem Schulhof, ich alleine in der Klasse, Tuula und Nesrin, die über mich lachen, und keiner, wirklich keiner, der mit mir redet. Jedem Lehrer musste ich aufs Neue erzählen, wer ich bin und warum ich hier bin und was meine Mutter macht. Singen und streben, habe ich gesagt. Violetta, Carmen, Aida, Turandot, Manon. Keiner stirbt so schön wie meine Mutter, alle weinen dabei. Ich fühlte mich wie ein seltenes Tier, das vor der Versteigerung inspiziert wird.
    »Beschweren ist wohl dein Lieblingssport«, sagt Mama.
    »Du musst ja nicht zur Schule«, knurre ich.
    »Darüber bin ich auch sehr froh, Dodo«, erwidert Mama gutgelaunt. »Aber ins Theater muss ich, morgen übrigens besonders früh. Für mich die Soloprobe, für dich der Bus!«
    Mama sieht mich an, als wäre sie gerade aus einer Torte gesprungen. Ich kann ihre Begeisterung nicht teilen.
    »Ich hab mich erkundigt«, setzt sie unbekümmert fort, »die Bushaltestelle ist direkt vor unserer Tür, die 42 fährt alle zehn Minuten, acht Haltestellen, und du bist da.«
    Mama zaubert eine Monatskarte aus ihrer Handtasche. Ich sehe mir die Karte an, lege mein Besteck weg und werde zu einem schmollenden Klumpen auf der Couch, der sich nie wieder bewegen will.
    »Was ist? Ich kann dich nicht dauernd fahren!«, sagt Mama und ihre Stimme klingt kalt.
    »Wir sind noch keine Woche hier«, sage ich.
    Ich überlege, ob ich das mit dem Sicherheit-Argument untermauern soll, aber es kommt mir übertrieben vor, zumal der Schuss an den Wochenenden nach hinten losgehen könnte.
    »Du bist erwachsen genug. Ich in deinem Alter …«, sagt Mama.
    »Ich fahre nicht Bus!«
    Wenn ich könnte, würde ich schreien. Aber ich kann nicht. Wie soll ich ihr erklären, dass ich mich in der Schule mit niemandem unterhalten will und am liebsten unsichtbar wäre. Mamas Stimme wird lauter.
    »Ich erziehe dich zur Selbständigkeit! Du kannst es dir nicht mehr leisten, ein kleines Kind zu sein.«
    So was hasse ich.
    »Du kannst dir das Kleinsein nicht leisten«, rufe ich, »ich schon! Ich bin nun mal nicht erwachsen! Ich habe keine Soloprobe und wichtige Auftritte! Auch keine Freunde, keinen Papa und kein Zuhause! Nicht mal ein Haustier, weil man die ja nicht im Flugzeug mitnehmen kann!«
    Ich merke, wie mir die Tränen die Kehle zuschnüren. Ich werde gleich nichts mehr sagen können und wie immer die Diskussion verlieren. Weil ich so wütend werde, wenn ich mich behaupten muss. Ich springe auf und gehe in mein Zimmer. Immer muss ich heulen, in den wichtigsten Momenten. Ich schlage die Tür hinter mir zu.
    »Wieso denn noch ein Haustier! Alice! Komm zurück! … Dodo!«, ruft Mama.
    Dann verstummt sie. Vermutlich sitzt sie noch eine Weile ratlos vor unseren Essenstüten und starrt die Reisklumpen an.
    Ich lege mich mit den Füßen auf das Kopfkissen und genieße den chemischen Duft frisch gekaufter Wäsche. Dann knülle ich meine Decke zusammen und drücke mein Gesicht hinein. Wenn ich das lang genug mache, werde ich einschlafen, ganz fest. Dann schwebt mein Kopf in kreisenden Bewegungen davon. Mama wird reinkommen und mich langsam ausziehen, zärtlich und behutsam. Sie wird mich unter die Decke schieben und das Licht löschen. Am nächsten Morgen werde ich vielleicht noch den Tränengeschmack in den Mundwinkeln spüren, aber mit der Genugtuung, aufrichtig gelitten zu haben. Ich habe gelitten und Mama ist schuld und hat mich getröstet. Aber das Beste ist der tiefe Schlaf. Es ist der tiefste, den man haben kann.
    »Du bist ja selbst ein Haustier«, sagt Mama müde, als sie meine Tür zumacht. Ihre Bühnenstimme hallt zwischen den Wänden und sucht sein Publikum.

Der Fideliovogel
    Halb absichtlich verschlafe ich die erste Schulstunde. Der Plan geht auf, kein anderer Schüler weit und breit. Im Bus kritzele ich mit dem Kugelschreiber eine Sonne auf meinen Lederranzen. Draußen ist es auch sonnig, aber elend kalt. Über Nacht ist sogar Schnee gefallen. Meine Sonne ist erst ganz klein, da ich bemalte Ranzen albern finde, wird dann aber immer größer und mit vielen Mustern verwoben. Nach einer Weile muss ich mich richtig zwingen, aufzuhören.
    Zwei Sitze mir gegenüber sitzt ein junger Mann. Er ist sicher Mitte zwanzig, hat braune Haare und sieht in seinem Anzug und der Krawatte wie
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