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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German)
Autoren: Vladimir Nabokov
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als auf der unfaßbaren Insel entrückter Zeit, wo Lolita mit ihresgleichen spielt. Innerhalb derselben Altersgrenzen ist die Anzahl echter Nymphchen auffallend gering gegenüber den voraussichtlich unansehnlichen oder nur «ganz netten» oder «herzigen» oder sogar «süßen» und «entzückenden» gewöhnlichen, dicklichen, formlosen, kalthäutigen, durch und durch menschlichen kleinen Mädchen mit Bäuchen und Zöpfen, die sich vielleicht - oder auch nicht - dereinst als große Schönheiten entpuppen werden (man denke an die Pummel in schwarzen Strümpfen und weißen Hüten, die sich in atemraubende Leinwandstars verwandeln). Ein normaler Mann, dem man ein Gruppenbild von Schulmädchen oder Pfadfinderinnen mit der Aufforderung zeigt, er solle die Reizvollste aussuchen, wird nicht unbedingt das Nymphchen unter ihnen wählen. Man muß ein Künstler sein, und ein Wahnsinniger obendrein, ein Spielball unendlicher Melancholie, dem ein Bläschen heißen Gifts in den Lenden kocht und eine Flamme schärfster Wollust unablässig in der elastischen Wirbelsäule lodert (ach, wie sehr man sich zu ducken und zu verkriechen hat), um an unbe-schreibbaren Anzeichen - die leichtgeschwungene Raubtierkontur eines Backenknochens, den Flaum an schlanken Gliedern und andere Merkmale, die aufzuzählen mir Verzweiflung, Scham und Tränen der Zärtlichkeit verbieten - sofort den tödlichen kleinen Dämon unter den normalen Kindern zu erkennen ... Da steht sie, von ihnen unerkannt und ihrer mythischen Macht selber nicht bewußt.
    Außerdem dürfte, da der Zeitbegriff in dieser Sache eine so magische Rolle spielt, der Wißbegierige nicht erstaunt sein zu erfahren, daß eine Kluft von mehreren Jahren, mindestens zehn, möchte ich sagen, gewöhnlich dreißig oder vierzig, in einigen bekannten Fällen sogar neunzig, zwischen Mädchen und Mann liegen muß, um letzteren in den Bann eines Nymphchens geraten zu lassen. Es ist eine Frage der Blickeinstellung, einer bestimmten Distanz, die das innere Auge mit Freuden überbrückt, eines bestimmten Gegensatzes, bei dem der Verstand, wenn er ihn bemerkt, vor perversem Entzücken nach Luft schnappt. Ein Kind noch war ich und war sie, und damals war meine kleine Annabel kein Nymphchen für mich; ich war ihresgleichen, selber ein kleiner Faun auf unserer verzauberten, zeitlosen Insel; aber heute, im September 1952, nach neunundzwanzig Jahren, glaube ich, in ihr die verhängnisvolle Ur-Elfe meines Lebens zu erkennen. Wir liebten einander mit einer frühreifen Liebe, der eine Heftigkeit eigen war, wie sie so oft das Leben Erwachsener zerstört. Ich war ein kräftiger Bursche und überlebte es, aber das Gift war in der Wunde, und die Wunde blieb immer off^n, und ich wuchs heran in einer Zivilisation, die einem Fünfundzwanzigjährigen erlaubt, einer Sechzehnjährigen den Hof zu machen, aber nicht einer Zwölfjährigen.
    Kein Wunder also, daß mein Leben in der Zeit, die ich als Erwachsener in Europa verbrachte, in einer ungeheuerlichen Zweiteilung verlief. Nach außen hin hatte ich sogenannte normale Beziehungen zu mehreren irdischen Frauen mit Kürbissen oder Birnen als Brüste; im Innern wurde ich von einem Höllenbrand lokalisierter Lust auf alle vorbeispazierenden Nymphchen verzehrt, denen ich mich als gesitteter Waschlappen nie zu nähern wagte. Die massigen Menschenweibchen, die zu handhaben mir erlaubt war, dienten nur als Palliative. Ich möchte annehmen, daß die Gefühle, die mir die sogenannte natürliche Hurerei verschaffte, so ziemlich die gleichen waren wie die normaler erwachsener Männer, die sich mit normalen erwachsenen Frauen in jenem Routinerhythmus wiegen, der die Welt bewegt. Das Dumme war nur, daß diese Herren nicht wie ich von einer unvergleichlich intensiveren Seligkeit gekostet hatten. Der matteste meiner Pollutionsträume war tausendmal hinreißender als all die Ehebrecherei, die sich das virilste Schriftstellergenie oder der talentierteste Impotente ausmalen könnten. Meine Welt war gespalten. Für mich gab es nicht ein, sondern zwei andere Geschlechter, von denen mir keines gehörte; beide würde ein Anatom mit «weiblich» bezeichnen. Aber im Prisma meiner Sinne waren sie für mich
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