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Lolita (German)

Lolita (German)

Titel: Lolita (German)
Autoren: Vladimir Nabokov
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Jahren, ehe ich Lolita kennen lernte. Es gibt zwei Arten visueller Erinnerung: eine, bei der man im Laboratorium des Intellekts kunstgerecht und mit offenen Augen ein Bild wiedererschafft (und dann sehe ich Annabel in so allgemeinen Begriffen wie «honigfarbene Haut», «dünne Arme», «hellbrauner Pagenkopf», «lange Wimpern», «leuchtender großer Mund»); und die andere, bei der man mit geschlossenen Augen auf der dunklen Innenseite der Lider blitzschnell das objektive, ganz und gar optische Ebenbild eines geliebten Gesichts heraufbeschwört, eine kleine Geistererscheinung in natürlichen Farben (und so sehe ich Lolita).
    Ich möchte mich daher zur Beschreibung von Annabel auf die steife Aussage beschränken: Sie war ein entzückendes Kind, ein paar Monate jünger als ich. Ihre Eltern waren seit langem mit meiner Tante befreundet und in Anstandsfragen ebenso penibel wie jene. Sie hatten nicht weit vom Hotel Mirana eine Villa gemietet. Der braune, kahlköpfige Mr. Leigh und die dicke, gepu-derte Mrs. Leigh (geborene Vanessa van Ness). Wie haßte ich sie! Zuerst sprachen Annabel und ich über Nebensächliches. Sie hob immer wieder eine Handvoll feinen Sandes auf und ließ ihn durch die Finger rinnen. Unser Denken war auf den Ton gestimmt, der unter intelligenten europäischen Voradoleszenten unserer Zeit und unserer Kreise damals vorherrschte, und ich bezweifle, daß unserem Interesse für die Wahrscheinlichkeit anderer bewohnter Welten, für Tennisturniere, die Unendlichkeit, den Solipsismus und so weiter viel Originalität zukam. Die Zartheit und Verletzlichkeit neugeborener Tiere berührte uns beide gleich schmerzlich. Sie wollte Krankenschwester in einem asiatischen Hungergebiet werden; ich ein berühmter Spion.
    Mit einem Mal waren wir wahnsinnig, unbeholfen, schamlos, qualvoll ineinander verliebt; hoffnungslos, sollte ich hinzufügen, denn dies rasende Verlangen nach gegenseitigem Besitz wäre nur dadurch zu stillen gewesen, daß wir des anderen Leib und Seele in jeder Faser in uns aufgesogen und uns zu eigen gemacht hätten; aber so standen wir da und waren nicht in der Lage, uns wenigstens so zu paaren, wie Slum-Kinder es können, die leicht eine Gelegenheit finden. Nach einem tollen Versuch, uns nachts in ihrem Garten zu treffen (mehr davon später), wurde uns an Ungestörtheit nur noch zugestanden, uns außer Hörweite, aber nicht außer Sichtweite an einer belebten Stelle der plage aufzuhalten. Dort auf dem weichen Sand, ein paar Schritt von den Erwachsenen entfernt, rekelten wir uns den ganzen Vormittag in einem versteinerten Paroxysmus der Begierde und benutzten jede glückliche Fügung in  Zeit und Raum, einander zu berühren: Ihre halb im Sand verborgene Hand kroch auf mich zu, die schlanken, braunen Finger rückten schlafwandlerisch näher und näher; dann machte sich ihr opalisierendes Knie auf eine lange, vorsichtige Reise; manchmal traf es sich, daß eine von jüngeren Kindern errichtete Sandburg genügend Deckung gewährte, die salzigen Lippen des anderen zu streifen; diese unvollkommenen Berührungen versetzten unsere gesunden und unerfahrenen jungen Körper in einen Zustand derartiger Überreiztheit, daß nicht einmal das kühle Wasser, unter dem wir noch immer nacheinander griffen, sie zu lindern vermochte.
    Unter den Kostbarkeiten, die ich auf den Irrfahrten meiner erwachsenen Jahre verlor, befand sich ein von meiner Tante aufgenommener Schnappschuß, auf dem Annabel, ihre Eltern und der gesetzte, lahme ältere Herr, ein Dr. Cooper, der in jenem Sommer meiner Tante den Hof machte, als Gruppe um den Tisch eines Terrassen-Cafés zu sehen waren. Von Annabel war nicht viel zu erkennen, weil sie sich gerade über ihr chocolat glacé beugte, und ihre dünnen nackten Schultern und der Scheitel in ihrem Haar waren (soweit ich mich an das Bild erinnere) so ungefähr alles, was man von ihr in dem Sonnendunst ausmachen konnte, in den ihr verlorener Liebreiz überging; ich hingegen, auf meinem Platz ein wenig abseits von den anderen, war mit einer Art dramatischer Auffälligkeit festgehalten: ein launischer, finster dreinsehender Junge in einem dunklen Sporthemd und gutgeschnittenen weißen Shorts, der mit übergeschlagenen Beinen im Profil dasitzt und wegsieht. Dieses Photo wurde am letzten Tag unseres schicksalhaften Sommers aufgenommen, ein paar Minuten, bevor wir unseren zweiten und letzten Versuch unternahmen, dem Schicksal einen Strich durch die Rechnung zu machen. Unter dem fadenscheinigsten
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