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Lola Bensky

Lola Bensky

Titel: Lola Bensky
Autoren: Lily Brett
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fünfzig bis sechzig Gäste anwesend waren. Die meisten waren schlank. Viele sahen wie
Tänzer oder ehemalige Tänzer aus. Vielleicht war es doch keine Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern ein Dinner zu Ehren einer Tanzcompagnie. Lola war selbst nicht mehr dick, obwohl sie es ungern laut aussprach, falls das Fett irgendwie zurückkehren und sich an ihr festkrallen sollte. Lola war schon seit mindestens zwei Jahrzehnten nicht mehr dick.
    Lola fühlte sich immer noch dick. Sie konnte nicht aufhören, sich dick zu fühlen. Sich dick zu fühlen war ihr offenbar eine Art Trost, dachte sie. Warum klammerte sie sich sonst so daran fest? Warum fühlte sie sich ihrem Fett immer noch so verbunden? Wenn sie vier oder fünf Pfund zunahm, wurde sie panisch und fühlte sich wie ein Koloss. Vielleicht war die Panik ebenfalls ein Trost. Die Panik darüber, wie dick sie war, ließ sie tagelang in ein beruhigend vertrautes Universum der Angst eintauchen.
    Lola war dreiundsechzig und wünschte sich immer noch, wirklich dünn zu sein. Sie hatte es ein paarmal geschafft, so dünn zu werden, dass sie sehen konnte, dass sie dünn war, doch sie konnte dieses Gewicht nicht halten. Sie fing dann unweigerlich an, mehr zu essen. Noch ein Eis von Weight Watchers, noch ein Apfel, noch eine Portion fettreduzierter Hüttenkäse, schon erhöhte sich ihre tägliche Kalorienzufuhr um dreihundert oder vierhundert Kalorien und ließ das Fett auf ihren Hüften ein paar Zentimeter wachsen.
    Doch sie war froh, dreiundsechzig zu sein und mit einem Glas in der Hand dazustehen und zu plaudern wie alle anderen. Sie konnte mittlerweile im Stehen plaudern. Stundenlang, wenn sie wollte. Mit einer gewissen Beklemmung und inneren Unruhe konnte sie sogar U-Bahn fahren. Sie konnte im Theater oder Kino überall sitzen, wo sie wollte, mit Ausnahme vielleicht der oberen Ränge, besonders dann, wenn die Sitzreihen hoch und steil anstiegen.
    Lola wusste, dass sie immer noch Ängste hatte, mit denen sie rangelte und raufte, doch im Großen und Ganzen ging es ihr gut, fand sie. Sie war glücklich, dass sie Mr. Someone Else noch immer sehr liebte und dass sie Kinder hatte, die sie mochten. Zumindest meistens. Ihre Kinder waren erwachsen. Alle drei hatten Partner, die sie vergötterten. Und die sie nicht langweilten.
    Bei der Hochzeit von Mrs. Gorgeous und später bei der Hochzeit ihres Sohnes war Lola auf ihrem Stuhl sitzend hochgehoben worden. Sie hatte gelacht wie ein Kind, als vier Männer sie mitsamt des Stuhls in die Höhe wuchteten und sie durch den Raum trugen, während eine Band »Chossn Kalah Mazel Tov« spielte. Lola hatte sich genauso gefühlt, wie sie sich als Kind auf dem Rücken des Elefanten im Melbourner Zoo gefühlt hatte. Wie auf dem Gipfel der Welt. Sie wünschte sich, Renia könnte da sein. Und sehen, wie schön Mrs. Gorgeous war. Und Lola auf dem Gipfel der Welt sehen.
    Lola unterhielt sich mit einem Choreografen, den Phyllis-Elissa ihr vorgestellt hatte. Sie war noch nie zuvor einem Choreografen begegnet.
    »Als Choreograf müssen Sie den Körper und seine Funktionsweisen sehr genau kennen«, sagte Lola zu ihm. Ein Choreograf, dachte sie, konnte den Körper nicht ignorieren, anders als ein Schriftsteller, der sich darüber Gedanken machte, ob überspannt , überdreht oder überreizt am besten ausdrückte, was er sagen wollte.
    »Ja, das müssen Sie, bis zur allerkleinsten Bewegung, zum Beispiel müssen Sie wissen, wie jeder Finger gebeugt und gestreckt werden kann und wie seine Abduktoren und Adduktoren funktionieren«, sagte er und führte die vier Bewegungen vor. Lola war beeindruckt.
    »Wussten Sie, dass, von den Genitalien abgesehen, die Haut
an den Fingerspitzen die höchste Konzentration an Tast- und Temperaturrezeptoren aufweist?«, fragte Lola. »Das bedeutet, die Fingerspitzen reagieren überaus empfindlich auf Temperatur, Erschütterung, Druck, Feuchtigkeit und Textur.«
    »Nein, das wusste ich nicht«, sagte der Choreograf und lachte. Lola war erleichtert, dass er lachte. Sie hatte keine Ahnung, was in sie gefahren war, mit einem wildfremden Menschen über Genitalien zu sprechen. Vermutlich, dachte sie, war es eine Art Überkompensation, begründet in ihrem Bedürfnis, etwas zu dem anatomischen Dialog beizutragen.
    »Waren Sie immer schon schlank?«, fragte der Choreograf Lola.
    Lola fing an zu stottern und verschüttete etwas Sprudel auf ihr Kleid. »Nein«, sagte sie entschieden. »Außerdem bin ich gar nicht schlank«, fügte sie
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