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Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland

Titel: Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
Autoren: von Dirk Petersdorff
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seiner Wichserein blockiert,
schafft in mir Aggressionen auf den Macker.
    Ich tick nicht, was das Arschloch motiviert.
Ich tick es echt nicht. Und will’s echt nicht wissen:
Ich find Sonette unheimlich beschissen.
    «Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs» will dieses Gedicht liefern, so kündigt es der Titel an. Sein Autor
Robert Gernhardt
(1937–2006) begann zwar schon in den Sechzigerjahren zu veröffentlichen, wurde aber in der Literaturszenerie zuerst wenig beachtet. Er war Teil einer Gruppe, die als «Neue Frankfurter Schule» bezeichnet wird und zu der neben Autoren wie Eckhard Henscheid auch Zeichner wie Bernd Pfarr gehörten. Diese Gruppe sammelte sich um die Satirezeitschriften «Welt im Spiegel» und «Titanic». Gemeinsames Merkmal der Gruppe war die Produktion von Komik.
    Solche Komik entsteht, wie im obigen Sonett zu erkennen ist, aus dem Kontrast, dem Aufeinandertreffen von eigentlich nicht Zusammengehörigem. Denn diese Abrechnung mit dem Sonett bildet selber eines, und zwar ein ganz vorbildliches: Es besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten, folgt den Reimvorgaben der Gattung und ist gleichmäßig metrisiert: «so eng, rigide, irgendwie nicht gut»–dieser Vers ist ein fünfhebiger Jambus. Die Gattung des Sonetts, eine der strengsten, die die lyrische Tradition zu bieten hat, wird mit einer Sprache gefüllt, die man gesellschaftlich genau zuordnen kann.
    Der Soziologe Gerhard Schulze hat vom «Selbstverwirklichungsmilieu» gesprochen. Damit ist eine gesellschaftliche Gruppe gemeint, die sich intensiv mit dem eigenen Innenleben beschäftigt, dieses Innenleben anderen Menschen kommunikativ vermittelt und auch das eigene Handeln an Gefühlen und Befindlichkeiten orientiert. Wenig geschätzt werden in diesemMilieu äußere oder innere Zwänge, sogenannte Sekundärtugenden (Ordnung, Leistungsbereitschaft) und Autoritäten jeglicher Art. Der empfindliche Kern der eigenen Person muss gegen Beschädigungen durch die Außenwelt geschützt werden, die einem scheinbar freien Menschen «echt den ganzen Tag versauen» können. Auch die Sprache des Selbstverwirklichungsmilieus entfernt sich demonstrativ von allen Konventionen: «Ich tick es echt nicht. Und will’s echt nicht wissen». Robert Gernhardt hat die Gespräche in den Wohngemeinschaften der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre genau belauscht.
    Er ist ebenso Formkünstler wie aufmerksamer Beobachter und Zuhörer, sodass sein Werk die reichste Ausbeute für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik bietet:
    Nachdem er durch Metzingen gegangen war
    Dich will ich loben: Häßliches,
du hast so was Verläßliches.
    Das Schöne schwindet, scheidet, flieht–
fast tut es weh, wenn man es sieht.
    Wer Schönes anschaut, spürt die Zeit,
und Zeit meint stets: Bald ist’s soweit.
    Das Schöne gibt uns Grund zur Trauer.
Das Häßliche erfreut durch Dauer.
    Metzingen ist eine kleine Stadt südlich von Stuttgart. Sie besitzt eine Weinbautradition, ist aber in der jüngsten Vergangenheit vor allem als Zentrum des Fabrikverkaufs («factory outlet center») bekannt geworden; sie stellt sich selbst als «Mekka der Schnäppchenjäger» vor. Man muss Metzingen jedoch nicht kennen, um zu wissen, was der Sprecher dieses Gedichtes meint. Denn es ist die Stadtentwicklung seit der Nachkriegszeit, die in den Achtzigerjahren auf Unmut trifft. Die einfallslos-rechtwinkligen Zweckbauten, die nur ökonomischen und technischen Notwendigkeiten folgten, die Betonbegeisterung, dieGroßparkplätze in Innenstädten, die Ignoranz gegenüber ästhetischen und ökologischen Wünschen – daraus geht der ironische Stoßseufzer hervor: «Dich will ich loben: Häßliches».
    Spricht hier einerseits der Zeitgenosse, so redet doch eine lange lyrische Geschichte mit. Denn Gernhardts Ton hat sich aus dem Studium und der Anverwandlung zahlreicher Autoren ergeben: «In Zungen reden. Stimmenimitationen von Gott bis Jandl» heißt eines seiner Bücher. Im Metzingen-Gedicht klingt August von Platen an: «Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheim gegeben.» Aber auch Schillers «Nänie»: «Auch das Schöne muss sterben!» Schließlich Heimito von Doderer: «Viel ist hingesunken uns zur Trauer / und das Schöne zeigt die kleinste Dauer.»
    Dass Gernhardt nach der Ermattung des Innovations-Impulses eine Ästhetik der Variation erprobte, zeigt auch seine Prosa. In der Sammlung «Kippfigur» findet sich eine
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