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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Das ist die kalte Berechnung eines Verdammten. Putnas letzte Schlacht. Sie sind eine Schachfigur in diesem Spiel, Walerij Andrejewitsch. Erinnern Sie sich, in ›Poltawa‹ ... › Das Leben und die Ehr’ verlieren . Die Feinde aufs Schafott mitnehmen‹.«
    »Die Freunde aufs Schafott mitnehmen«, verbesserte mich Miroljubow.
    »Nein. ›Die Freunde‹ – das wurde für Sie und ihresgleichen rezitiert, Walerij Andrejewitsch, mein lieber ›
gaudeamus
‹. Hier bezieht sich die Berechnung eher auf die Feinde als die Freunde. Möglichst viele Feinde mitzunehmen. Die Freunde erwischt es auch so.«
    »Aber was soll ich denn, was soll ich machen?«
    »Wollen Sie einen guten Rat, Walerij Andrejewitsch?«
    »Gut oder schlecht, ganz egal. Ich will nicht sterben.«
    »Nein, nur einen guten. Sagen Sie nur die Wahrheit aus. Wenn Putna lügen wollte vor dem Tod – ist das seine Sache. Ihre Rettung liegt nur in der Wahrheit, allein in der Wahrheit, in nichts als der Wahrheit.«
    »Ich habe immer nur die Wahrheit gesagt.«
    »Und die Wahrheit ausgesagt? Hier gibt es viele Nuancen. Die Notlüge zum Beispiel. Oder: die Interessen der Gesellschaft und des Staates. Die Klasseninteressen des Einzelnen und die persönliche Moral. Die formale Logik und die nichtformale Logik.«
    »Nur die Wahrheit!«
    »Um so besser. Das heißt, Sie haben Erfahrung im Aussagen der Wahrheit. Darauf sollten Sie sich verlassen.«
    »Wenig haben Sie mir geraten«, sagte Miroljubow enttäuscht.
    »Kein leichter Fall«, sagte Krist. »Lassen Sie uns glauben, daß sie ›dort‹ ihre Sache sehr gut verstehen. Wenn sie Ihren Tod brauchen, werden Sie sterben. Wenn nicht – könnten Sie davonkommen.«
    »Traurige Ratschläge.«
    »Andere habe ich nicht.«
    ____
    Krist traf Miroljubow auf dem Dampfer »Kulu« – der fünften Fahrt der Schiffahrtssaison von 1937. Der Überfahrt »Wladiwostok – Magadan«.
    Der Leibarzt des Fürsten Gagarin und Vitautas Putnas grüßte Krist kühl – Krist war ja Zeuge seiner inneren Schwäche, einer gefahrvollen Stunde in seinem Leben gewesen und hatte ihm, so empfand es Miroljubow, in einem schweren, todgefährlichen Moment nicht geholfen.
    Krist und Miroljubow drückten einander die Hand.
    »Ich bin froh, Sie lebend zu sehen«, sagte Krist. »Wieviel?«
    »Fünf Jahre. Aber Sie verhöhnen mich. Ich bin ja vollkommen unschuldig. Und dann fünf Jahre Lager. Die Kolyma.«
    »Ihre Situation war sehr gefährlich. Lebensgefährlich. Das Glück hat Sie nicht verlassen«, sagte Krist.
    »Gehen Sie zum Teufel mit solchem Glück.«
    Und Krist dachte: Miroljubow hat recht. Das ist ein allzu russisches Glück – froh zu sein, wenn ein Unschuldiger fünf Jahre bekommt. Denn er hätte ja zehn bekommen können, sogar den Tod.
    An der Kolyma begegneten sich Krist und Miroljubow nicht. Die Kolyma ist groß. Doch aus Erzählungen, durch Nachfragen erfuhr Krist, daß Doktor Miroljubows Glück für die ganzen fünf Jahre seiner Lagerhaft reichte. Miroljubow kam im Krieg frei, arbeitete beim Bergwerk als Arzt, wurde alt und starb 1965.
    1965

Iwan Fjodorowitsch
    Iwan Fjodorowitsch empfing Wallace in Zivil. Die Wachtürme im angrenzenden Lager waren abgesägt, und die Häftlinge erhielten einen gesegneten freien Tag. Auf den Regalen des Siedlungsladens lagen alle hervorgeholten »heimlichen Reserven«, und es wurde Handel getrieben, als gäbe es keinen Krieg.
    Wallace beteiligte sich an einem Sonntagseinsatz zur Kartoffelernte. Im Gemüsegarten gab man Wallace eine amerikanische gebogene Schaufel, erst kürzlich durch Lend-Lease gekommen, und das war Wallace angenehm. Iwan Fjodorowitsch selbst war mit einer ebensolchen Schaufel bewaffnet, nur der Stiel war russisch – lang. Wallace fragte etwas, zeigte auf die Schaufel, der neben Iwan Fjodorowitsch stehende Mann in Zivil sagte etwas, dann sagte Iwan Fjodorowitsch etwas, und der Übersetzer übersetzte seine Worte liebenswürdig für Wallace. Daß man in Amerika – einem technisch führenden Land – selbst über die Form einer Schaufel nachgedacht habe, und er berührte die Schaufel, die Wallace in der Hand hielt. Alles an der Schaufel sei gut, nur der Stiel sei nichts für Russen – sehr kurz, nicht ausgezogen. Der Übersetzer hatte Mühe mit der Übersetzung des Wortes »ausgezogen«. Aber daß die Russen, die einen Floh beschlagen haben (davon hatte auch Wallace etwas gelesen, als er sich auf die Reise nach Rußland vorbereitete), eine Verbesserung in das amerikanische Werkzeug
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