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Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck

Titel: Lilli Steinbeck Bd. 1 - Die feine Nase der Lilli Steinbeck
Autoren: Heinrich Steinfest
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irritierte, war der Umstand, daß diese Wunden und Deformationen kein gleichbleibendes Schema zu erfüllen schienen. Lilli hätte also nicht sagen können, daß es sich hier ausschließlich um die Opfer von Folterungen handelte, wie sie im ersten Moment vermutet hatte. Ganz nach dem Prinzip des Dr. Antigonis, Empathie für die von ihm ausgewählten Opfer zu empfinden. Nein, einiges, was Lilli zu sehen bekam, schien ihr angeboren zu sein. Auf Erbschäden basierend. Oder einer Krankheit entspringend. Es mochten auch Leute darunter sein, deren Verletzungen auf Unfälle zurückzuführen waren. Tatsächlich hatte Lilli den Eindruck, daß die Personen an diesem Ort nur der eine Umstand verband, in deutlicher Weise von einem Menschenbild abzuweichen, wie man es auf Lehrtafeln in Schulklassen zu sehen bekam. Von den Lehrtafeln der Werbung ganz zu schweigen.
    Erst jetzt, in diesem hellen, sauberen, mit einem Boden aus Bernsteinimitat versehenen Raum, in dem flinke Finger über flache Tastaturen segelten, mitunter auch nur die zwei, drei Finger, die einer Hand geblieben waren, erst jetzt also erkannte Lilli Steinbeck, wie gut sie selbst mit ihrem unorthodoxen Nasengebilde hierher paßte. Sie vergaß das nämlich gerne, wie sehr ihre Gesichtsmitte von der Norm abwich und den verschiedenen Betrachtern auffallen und zu denken geben mußte. An diesem Ort war ihre Nase freilich ein Klacks. Verglichen etwa mit einer Frau, die einen Helm trug und deren linke Gesichtshälfte in Form eines dicken, fleischigen Sacks weit herunterhing. Ein Auge war darin nicht erkennbar. Allerdings besaß diese Frau alle zehn Finger, welche in vollendeter Form über Buchstaben und Zahlen krabbelten, selbige berührend, als picke sie Garnelen aus einem Meer.
    »Hier bitte!« sagte der Chauffeur, öffnete eine Türe und verbeugte sich leicht.
    Lilli betrat einen Raum von ähnlicher Größe, in dem jedoch keine Arbeitstische standen, sondern einzig und allein eine im Zentrum plazierte Anordnung dreier Sofas die großzügige Leere unterbrach. Die Möbel waren in einer trüben Farbe gehalten, die man als Kabelgrün bezeichnete.
    Das Trio aus Sofas bildete die drei sichtbaren Seiten eines Quadrats. Über die gedachte Linie der vierten Seite bewegte sich jetzt Dr. Antigonis, Grandseigneur wie gehabt, begrüßte Lilli und führte sie zu der Sitzgruppe. Auf dem rechten Sofa saß Kallimachos. Er sah gut aus, sehr viel besser als auf der Insel. Er trug jetzt wieder Smoking. Erinnerte jetzt wieder an Orson Welles. Nickte Lilli zu.
    »Sie beide kennen sich ja«, meinte Antigonis mit Blick auf Kallimachos und machte Lilli nun mit der Person bekannt, die auf dem mittleren der kabelgrünen Sofas saß. »Meine Frau Zoe.«
    Lilli Steinbeck hatte mit jemand gerechnet, der etwas an sich hatte, was man nicht so gerne in eine gaffende Öffentlichkeit trug. Etwas Irreparables wie bei den Leuten draußen. Aber da war nichts zu erkennen. Hier saß eine elegante, gelbblonde und luftgebräunte Dame, deren fortgeschrittenes Alter allein an den etwas faltigen Händen abzulesen war. Sie trug einen dieser Trainingsanzüge, die auch zu Staatsempfängen passen. Keinen Schmuck, minimales Make-up, dazu einen Hauch von »L’Air du Temps« von Nina Ricci, ein Geruch, der längst nicht mehr auf dem Markt war. Ein historischer Geruch.
    Lilli Steinbeck, die ja über eine in jeder Hinsicht feine Nase verfügte, hätte jetzt gehörend Eindruck machen können, dadurch, diesen Geruch zu benennen. Aber sie unterließ es. Wie früher manchmal in der Schule, wenn sie die richtige Antwort parat hatte, aber stumm blieb. (Welch merkwürdige Macht darin liegt, etwas nicht zu sagen, was man weiß.)
    Die Frauen reichten sich die Hände. Dann bat Dr. Antigonis Lilli, sich neben ihn auf das freie Sofa zu setzen. Als das geschehen war, kam ein Mann herein, hundertprozentig ein Ex-Journalist, und servierte Kaffee.
    »Wie gefällt es Ihnen bei uns, Madame?« fragte Antigonis, während er selbst Lilli einschenkte.
    »Ich bin überrascht. Aber das können Sie sich ja denken. Was ist das hier? Ein Firmengelände? Ein Sanatorium? Ein Umerziehungslager für Journalisten?«
    »Wir nennen es der Einfachheit halber Park . Unseren Park .« Es war Zoe Antigonis, die geantwortet hatte. Sie besaß eine tiefe Stimme, wie man sie einem ausschweifenden Leben zuordnet. Eine Stimme nach drei Uhr morgens. Sehr aufregend.
    »Na, ein wenig eine Firma ist es schon auch«, wandte ihr Mann ein. »Wir pflanzen hier Tulpen an.
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