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Lilith Parker

Lilith Parker

Titel: Lilith Parker
Autoren: Janine Wilk
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sich zu ihm hinab. Der säuerliche Geruch von Wein stieg Rafael in die Nase. Der Mann raunte ihm etwas zu, doch seine Stimme war so brüchig, dass Rafael kaum etwas verstehen konnte.
    Â»La Serenissima … in Gefahr …«, war alles, was er immer wieder heraushören konnte.
    Â»Sind Sie … der Geist des blinden Dogen?«, brachte Rafael mühsam hervor.
    Einen Moment lang herrschte Grabesstille. Rafael hörte nichts als das Hämmern seines Herzens. Dann begann der Schattenmann lautstark zu lachen.
    Â»Ich bin ein glaubwürdiger Dandolo, nicht wahr?«, krächzte er zufrieden. Seine Zunge war schwer vom Alkohol.
    Â»Danke, verehrtes Publikum, aber das war die letzte Vorstellung für heute Nacht!« Er verneigte sich vor den Kindern und kam dabei so ins Schwanken, dass er sich an der Hauswand abstützen musste.
    Ungläubig fuhr sich Rafael über die Augen. Sie waren einem Schauspieler auf den Leim gegangen? Nun erinnerte sich Rafael plötzlich, dass sie eine Schauspielgruppe gesehen hatten, die auf einer kleinen Bretterbühne auf demCampo San Polo venezianische Legenden nachgespielt hatte. Bei näherer Betrachtung sahen die Sternenaugen des Mannes auch gar nicht mehr so unheimlich aus. Der Bereich um die Augen war mit weißer Farbe getüncht worden, die vom Mondschein reflektiert wurde.
    Der alte Mann nahm einen großen Schluck aus einer Flasche, die er unter seinem Umhang hervorgezogen hatte.
    Â»Kinder haben um diese Uhrzeit hier draußen nichts verloren«, meinte er. »Das kann gefährlich sein. Man weiß nie, wem man nachts in den Gassen über den Weg läuft!« Er nahm noch einen weiteren Schluck, ehe er die Flasche zustöpselte. »Der Geist des blinden Dogen macht sich jetzt auf den Heimweg und schläft seinen Rausch aus«, murmelte er und ließ die Flasche wieder unter seinem Umhang verschwinden.
    Ohne ein weiteres Wort schlurfte er davon, doch sein schadenfrohes Gelächter hallte noch eine Zeit lang durch die Gasse.
    Â»Du bist vielleicht ein Angsthase!«, höhnte Sofia.
    Abrupt zog sie ihre Hand zurück. Rafaels Arm brannte an der Stelle, wo sich ihre Fingernägel noch vor wenigen Augenblicken voller Angst in seine Haut gekrallt hatten.
    Â»Ich?«, echote er ungläubig. »Du hast doch gesagt, dass Dandolos Geist vor uns steht.«
    Â»Das habe ich doch nicht ernst gemeint!«, behauptete sie voller Empörung. »Ich wusste sofort, dass der Geist nicht echt ist.«
    Rafael seufzte auf und schüttelte ergeben den Kopf. Er kannte Sofia gut genug, um zu wissen, dass es keinen Sinnhatte, ihr zu widersprechen. Sie würde niemals zugeben, dass sie genau wie Rafael auf den betrunkenen Schauspieler reingefallen war.
    Er tröstete sich damit, dass er diese unheimliche Begegnung vielleicht für eine seiner Geschichten nutzen konnte. Alles, was ihm wichtig erschien oder ihn faszinierte, schrieb er auf. Für Rafael waren die dicht beschriebenen Seiten, die er in seinem Zimmer unter einer losen Bodendiele versteckte, wie sein eigener, ganz geheimer Schatz. Niemand, noch nicht mal seine Eltern oder Sofia wussten davon.
    Das Mädchen erhob sich. »Komm, wir gehen!«
    Rafael blinzelte sie verwirrt an. »Jetzt? Aber es ist doch noch dunkel!«
    Â»Aber nicht mehr lange!«
    Tatsächlich war es in den letzten Minuten unmerklich heller geworden. Rafael warf einen Blick auf den Nachthimmel, der sich über ihnen zwischen den eng stehenden Häusern wie ein Aal schlängelte. Die Sterne verblassten, das Schwarz des Himmels hellte sich auf.
    Â»Wir gehen zur Piazza San Marco und sehen uns den Sonnenaufgang an!« Der Tonfall, in dem Sofia dies sagte, klang eher nach einem Befehl als nach einem Vorschlag.
    Â»Die Piazza ist am anderen Ende der Stadt«, stöhnte Rafael auf. »Es wird ewig dauern, bis wir dort sein werden.« Er war müde und fühlte sich durch den kurzen Schlaf auf dem harten Boden wie gerädert.
    Â»Aber es lohnt sich! Wenn nämlich der erste Sonnenstrahl auf den Markuslöwen fällt und das Morgenlicht seine Mähne vergoldet, kann man sein tiefes Grollen hören.«
    Die Statue des Markuslöwen stand auf einer riesigen Granitsäule direkt am Canal Grande, dem größten Kanal Venedigs, und war das Wahrzeichen der Stadt. Rafael liebte diesen geflügelten Löwen. Das Tier thronte dort oben so majestätisch und kraftvoll über der Stadt, dass
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