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Lilith Parker: Insel Der Schatten

Lilith Parker: Insel Der Schatten

Titel: Lilith Parker: Insel Der Schatten
Autoren: Janine Wilk
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anderen, aber außer ihr selbst schien niemand etwas bemerkt zu haben. Sie wartete atemlos ab. Der Boden unter ihren Füßen blieb ruhig und bewegungslos.
    Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Vielleicht war sie von dem Sturz immer noch etwas wacklig auf den Beinen und hatte sich alles nur eingebildet.
    Lilith schloss zu Eleanor und Matt auf. Das Wassermonster hatte inzwischen die Maske abgenommen und über dem grünen Körper kam ein hageres Gesicht zum Vorschein, das mit einer jugendlichen Akne überzogen war. Bei näherem Hinsehen erwies sich das Monsterkostüm als dunkelgrüner Neoprenanzug, an dem künstliche Algen, gummiartige Auswüchse und Pailletten befestigt waren. Der junge Mann war so hochgewachsen, dass Lilith den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzusehen.
    »Was wollen Sie denn hier?«, fragte er gerade an Eleanor gewandt und sah sie unfreundlich an. »Mit der letzten Fähre kommen eigentlich nur Einheimische.«
    Neben ihm stand eine in Lumpen gehüllte, als Hexe verkleidete Frau mit strähnigen Haaren, die sich vornübergebeugt auf einen Stock stützte. Sie nickte so eifrig, dass ihre lange gebogene Nase wie ein Beil auf und nieder fuhr. »Das Halloweenspektakel für Touristen ist vorbei und es gibt hier keine Übernachtungsmöglichkeiten«, krächzte sie.

    Die Nase der Hexe zog Liliths und Matts Aufmerksamkeit wie magisch an. Sie ging so fließend in ihr faltiges Gesicht über, dass sie unglaublich echt wirkte. Auch die Farbe stimmte mit ihrem Gesicht bis zur kleinsten Nuance überein. Entweder war hier ein unglaublich begabter Maskenbildner am Werk gewesen oder – was Lilith der Frau nicht wünschte – die Nase war tatsächlich echt.
    »Was glotzt ihr beide so?«, fuhr sie Lilith und Matt an. »Gefällt euch etwa meine Nase nicht?«
    »Doch … doch«, stammelte Matt. »Sie ist …« Er stockte.
    »Beeindruckend«, half ihm Lilith.
    »Wenn ihr weiter so frech seid, hexe ich euch eine doppelt so große Nase ins Gesicht, ihr elenden Bälger!«, fauchte sie und gab beim Anblick der erschrockenen Gesichter von Matt und Lilith ein grausiges Lachen von sich. Die Frau schien in ihrer Halloweenrolle regelrecht aufzugehen.
    »Hören Sie, ich hab Ihnen doch gerade schon versucht zu erklären, dass wir keine Touristen sind«, sagte Eleanor in ruhigem Ton. »Wir …«
    »Sie gehören zu mir«, unterbrach sie eine weibliche, sehr melodisch klingende Stimme. »Jedenfalls eine von ihnen.«
    Aus einem der Nebelfetzen trat eine schlanke junge Frau in Jeans und einem dunkelroten Regencape. Ihr blondes Haar reichte ihr bis zu den Hüften und war im Nacken zu einem praktischen Zopf zusammengebunden. Ihr fester, gerader Blick heftete sich auf Lilith.
    »Du musst meine Nichte sein«, stellte sie fest. Es war nicht zu erkennen, ob sie dieser Umstand freute oder ob sie ihn bedauerte.

    Lilith dagegen musste sich zusammenreißen, ihre Tante nicht mit weit geöffnetem Mund anzustarren. Auch wenn ihr Vater nie viel von seiner Familie erzählt hatte, so wusste Lilith doch, dass Mildred seine ältere Schwester war und schon über vierzig sein musste. Die Frau, die vor Lilith stand und sich als ihre Tante ausgab, sah aus wie Mitte zwanzig. Ihre Haut war makellos, hatte eine jugendliche Frische und zeigte nicht einmal die Spur kleiner Fältchen. Diese Frau konnte unmöglich ihre Tante sein! Allerdings war ihre Ähnlichkeit mit Joseph Parker nicht zu leugnen. Die Art, wie sie nun entschlossenen Schrittes auf Lilith zukam, erinnerte sie genauso an ihren Vater wie Mildreds türkisfarbene Augen.
    Lilith holte tief Luft und setzte ein, wie sie hoffte, höfliches Lächeln auf. »Es freut mich, dich kennenzulernen, Tante Mildred!«
    Ihre Tante erwiderte ihren Händedruck und ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
    »Bevor ich es vergesse: Ich soll dir von Dad einen Brief geben.« Lilith nahm ihren Rucksack ab und durchforstete ihre Innentasche. »Ich musste ihm an die hundert Mal versprechen, dass ich ihn dir sofort bei meiner Ankunft übergebe.«
    Endlich fand Lilith den Brief. Ihr Vater hatte ihn sogar mit einem Wachssiegel verschlossen. Zwar hatte er eine Marotte für solche alten Traditionen, doch Lilith wurde das Gefühl nicht los, dass er mit dem Siegel ein vorzeitiges Öffnen verhindern wollte.

    Mildred nahm den Brief mit einem kaum hörbaren Seufzen entgegen. Sie stellte sich unter eine der gusseisernen Laternen, doch das wenige Licht konnte kaum ausreichen, um in der Dunkelheit und dem Nebel Vaters
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