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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit
Autoren: A Forna
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früher an der Universität unterrichtet. Sie ist ehemalige Tanzlehrerin und hat ihm ein Foto von seiner Mutter gegeben, auf dem diese, in einem fließenden grauen Jerseykleid, eine Pina-Bausch-Pose eingenommen hat. Am späten Nachmittag schaut Adrian, eher um der Möglichkeit eines sich abzeichnenden Einsamkeitsgefühls als einem tatsächlichen Gefühl von Einsamkeit entgegenzuwirken, auf einen Sherry bei ihnen vorbei, der jeden Tag um fünf eingenommen wird. Der Bungalow direkt neben Adrians ist von Wochenendgästen gekauft worden, die selten, wenn überhaupt, die Fahrt von London herauf unternehmen.
    Adrian ist weder ein Wochenendgast noch ein Ortsansässiger, eher ein Mittelding. Nach dem Tod seiner Mutter hat er sich dazu entschlossen, den Bungalow zu behalten. Er ist praktisch, wenn er sich zum Schreiben zurückziehen will, und auch für gelegentliche Wochenenden mit Kate. Seine übrigen Freunde sind gänzlich unterschiedlichen Alters, teils Bekannte von früher, einstige Schulkameraden und Kommilitonen, die noch immer in der Gegend wohnen, manche arbeiten an der Universität, ein oder zwei – wie das Sherry-Ehepaar – waren Freunde oder Bekannte seiner Mutter. Interessant, wenn man es sich überlegt, ein Alter zu erreichen, in dem es möglich wird, mit seinen Eltern gemeinsame Freunde zu haben.
    Er ist nicht unglücklich.
    Abends isst er oft im Lamb and Anchor, in dem es der Eigentümer geschafft hat, ein authentisches Ambiente zu simulieren, und die einheimischen Gäste mit ihren Hunden und angestammten Sitzplätzen am Tresen ein gleichermaßen überzeugendes Imitat eines herzlichen Willkommens liefern. Adrian hat keine Probleme damit. Er trinkt regelmäßig ein Guinness, weil es das ist, was er am ersten Abend bestellt hat, weswegen es jetzt als sein »Übliches« gilt. Er grüßt in die Runde, setzt sich an den Kamin, der selbst im Sommer glüht, liest seine Zeitung und bestellt das Tagesgericht. Dazu trinkt er ein, zwei Glas vom absolut trinkbaren Haus-Roten oder bestellt eine halbe Flasche Bordeaux. Wenn er mit Kate kommt, necken die – meist männlichen – Stammgäste sie mit ruppigen Bemerkungen, auf die sie stets höflich und vollkommen ernsthaft reagiert.
    Es amüsiert ihn, wie Kate diese Männer, ganz ohne es zu merken, aus dem Konzept bringt. Er bewundert ihren knochentrockenen Humor, ihre Fähigkeit, einen Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen. Während des Essens beobachtet er, wie sie ihr Besteck sorgfältig umordnet. Bei anderen Gelegenheiten hat er sie, im Glauben, unbeobachtet zu sein, allein, nur für sich, tanzen sehen und an Ileana denken müssen. Mittlerweile freut sich Adrian auf diese Zeiten, die sie allein miteinander verbringen und in denen er eine neue und völlig unerwartete Liebe für sie entdeckt hat – eine positive Folge des Endes seiner Ehe. Nach dem Essen besteht der Wirt immer darauf, Kate einen Nachtisch zu spendieren, und sie entscheidet sich regelmäßig für Käse.
    In der Stadt ist er viel beschäftigt. Tagsüber hat er seine Klienten, seine Abende sind – und zwar seinerseits ganz bewusst – mit allerlei Verpflichtungen ausgefüllt: Abteilungsbesprechungen, Vorstandssitzungen verschiedener Organisationen, in denen er mitarbeitet, Artikel, die er schreiben muss, Dinnerpartys.
    An sie denkt er vor allem hier, in Norfolk. Manchmal fährt er aus keinem anderen Grund hier herauf. Hängt irgendwie mit dem Wasser zusammen, der See. Heute ist er allein. Kate ist in der Stadt, bei ihrer Mutter, und er ist nicht in der Stimmung für Geselligkeit oder Sherry, also lässt er seine Gedanken zu ihr schweifen. Er betrachtet die See und stellt sich, wie schon so oft, vor, wie die Wellen sich die Hände reichen, von Grau zu Blau zu Grün übergehen und ihn in die Vergangenheit ziehen. In solchen Augenblicken wallt eine Sehnsucht in ihm auf, so mächtig wie das Wogen des Ozeans.
    Auch wenn der Verlustschmerz, der länger andauerte als die Beziehung selbst, schon vor Langem abgeklungen ist, besteht Adrians Liebe noch unvermindert fort. Anders als zu früheren vergleichbaren Gelegenheiten – da er die eine oder andere verlorene Jugendliebe betrauerte – wird es dieses Mal keine Überlegungen geben, wie sie, durch die Zeit verändert, jetzt aussehen, womit sie sich jetzt beschäftigen mag, wird es keinen unbekannten Rivalen oder Stellvertreter geben, auf den man eine rasende Eifersucht projizieren könnte. Denn der Tod nimmt alles mit, lässt keinerlei Möglichkeit zurück
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