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Liebe und Gymnastik - Roman

Liebe und Gymnastik - Roman

Titel: Liebe und Gymnastik - Roman
Autoren: Edmondo de Amicis
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Lebenserfahrung. Er hatte sich so dicht neben die Maestra gesetzt, dass sie zurückweichen musste, um ihn nicht mit Schulter und Seite zu streifen. Seine Mutter, noch keine vierzig, mager wie ein Hering, elegant und gelangweilt, mit einer großen aristokratischen Nase, war wohlwollend, solange man sie nicht in der blinden Liebe zu ihrem Sohn kränkte. Das sympathischste Familienmitglied war der Ingenieur, ein gut aussehender Mittfünfziger, ergraut, heiter, ein großer Arbeiter, großer Unterhalter, großer Spötter, einem Leben auf großem Fuß zugetan, aber kein Angeber. Die Eheleute empfanden herzliche Sympathie für die Pedani, zum Teil wegen der beachtlichen Originalität ihres Charakters, doch mehr noch, weil ihr Töchterchen sie bewunderte; und sie waren in allem völlig ihrer Meinung, außer dass sie eine erklärte Abneigung gegen die Gymnastik hegten, die entstanden war, als ein Neffe, Schüler an einer Klosterschule in Mailand, im Jahr zuvor beim Klettern an der Stange gestürzt war und sich den Arm gebrochen hatte.
    «Gute Freunde», pflegte Ginoni zu sagen, wenn er ihr auf der Treppe begegnete, «aber nur bis an die Schwelle zum Turnsaal.» Oder: «Nieder mit der Gymnastik!», und jedes Mal, wenn die beiden in Gesellschaft zusammen waren, neckte er sie auf drollige Weise mit diesem Thema.
    Auch an diesem Abend kam das Gespräch darauf. Unter anderem erzählte der Ingenieur, um die neuen Unterrichtsmethoden zu kritisieren, dass er im Jahr zuvor im Pensionat San Domenico, wohin er sich begeben hatte, um die Räumlichkeiten zu besichtigen, die Töchter der Freiheitskämpfer, die «Figlie dei militari», Rhythmusübungen habe ausführen sehen. Doch, das Schauspiel habe ihm durchaus gefallen. Diese hundertfünfzig großen Mädchen in hübschen schwarz-blauen Kleidern mit kleinen weißen Schürzen, aufgestellt in einem geräumigen Hof, die sich alle zusammen nach den Kommandos einer Maestra in anmutigen Kontertanzschritten bewegten, wobei sie ein rhythmisches Geraschel veranstalteten, das an geflüsterte Musik erinnerte, all diese schönen Arme und diese kleinen Hände in der Luft, diese wippenden dicken Zöpfe in rosigen Nacken und über schlanken Leibern, diese dreihundert schmalen, angewinkelten Füße und die undefinierbare Anmut dieser Bewegungen zwischen Tanzen und Springen, diese langen Kleider, in denen sie aussahen wie eine züchtige Balletttruppe, all das war neu und verführerisch, zweifellos. Aber mein Gott! Wie viele Worte diese Lehrerin machte, um sie in Bewegung zu bringen. Sie redete ja mehr, als die Mädchen sich bewegten, es waren endlose Kommandos wie bei einem Brigadegeneral, eine ermüdend komplizierte Choreografie. Und dann: gezügelte und nach Zentimetern abgezirkelte Bewegungen, unzureichend für diese ausgewachsenen, von Leben erfüllten Körper, eine Kombination von ausgeklügelten Bewegungsabläufen, auf dem Papier entworfen, um Prüfungskommissionen und Besuchern mit einer Darbietung aufwarten zu können. Er hätte Lust gehabt, die Aufführung mittendrin zu unterbrechen und sie alle wie eine Herde junger Füllen auf einer Blumenwiese springen zu lassen.
    In diesem Punkt war die Pedani überraschenderweise ganz seiner Meinung. Sie war Baumannianerin, eben weil Baumann die choreografische Gymnastik bekämpfte und eine männlichere Schulung für Mädchen anstrebte.
    «Dann werde ich», sagte der Ingenieur, «um Sie zu ärgern, schlecht über Baumann reden.»
    «Und ich werde ihn verrrteidigen», antwortete die Maestra, «verrrsuchen Sie es.»
    «Nein», sagte er lächelnd, «ich werde das nicht tun, ich bin darin nicht bewandert genug, denn heutzutage umfasst die Gymnastik ja alle Wissenschaften.» Und er erzählte von einem Redner bei der Gesellschaft der Freunde der Technik, der ein paar Abende zuvor, als er über die Gymnastik sprechen sollte, zunächst einen endlosen Exkurs durch Philosophie, Ethnologie, Anthropologie vorausgeschickt und das gesamte menschliche Wissen auf den Kopf gestellt hatte – um schließlich von den Hanteln zu sprechen.
    «Die Gymnastik», antwortete die Pedani ruhig, «hängt mit allen Wissenschaften zusammen.»
    «Wie auch nicht?», entgegnete der Ingenieur. «Ja, sie ist der Schlüssel zu allem. Heute heißt es, wenn ein Knabe eine Aufgabe nicht lösen kann, braucht er nur eine Viertelstunde am Parallelbarren zu üben, dann setzt er sich wieder an den Tisch, und alles ist erledigt.»
    «Der Herr Ingenieur beliebt zu scherzen», bemerkte die Pedani
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