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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten
Autoren: James Meek
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Gartentür offen stand. Zwei Schritte vor der Schwelle fühlte er etwas die Schenkel hinuntergleiten. Seine Shorts rutschten ihm auf die Waden. Er stürzte und prellte sich das Knie an den Küchenfliesen. Die nackten Schenkel machten unangenehme Bekanntschaft mit dem kalten Schiefer. Er stand auf, zog sich die Hose hoch, band die Kordel zu und humpelte in den Garten hinaus.
    Eine milde englische Wärme hüllte ihn ein, und er blinzelte gegen die Helligkeit an. Auf der Eibe gurrte eine Ringeltaube. Karin stand mit dem Rücken zu Ritchie und streckte sich, um Mirabellen von einem hohen Ast zu pflücken, der immer wieder raschelnd zurückschnellte. Der Saum ihres Musselinrocks schob sich über ihre braunen Waden nach oben, und ein Träger ihres Tops rutschte ihr von der Schulter. Es roch nach Gras, wo die Sonne auf die von nackten Füßen zertretenen Halme schien. Ritchie bedauerte, dass er später mit seiner kleinen Freundin verabredet war. Er wäre lieber mit Frau und Kindern zu Hause geblieben. Dan lief von Stamm zu Stamm und hielt dabei Ritchies Gitarre wie eine Waffe, ging in die Hocke und zielte mit dem Gitarrenhals. Ruby häufte Früchte auf. Sie sah ihren Vater und sprang auf.
    »Guck mal, Daddy!«, rief sie. Sie schraubte ihren schmalen Oberkörper zu Karin herum und lachte.
    Dan erhob sich ängstlich. »Gib mir die Gitarre«, sagte Ritchie. Dan ließ sie ins Gras fallen und lief zu seiner Mutter. Ritchie fasste die Gitarre am Hals und schwenkte sie beim Aufheben. Nichts drin. Er spähte in das hohe Gras. Das Handy konnte rausgefallen sein, oder jemand von seiner Familie konnte es genommen haben. Das Handy enthielt dutzendweise Nachrichten von Nicole, die so obszön waren, dass er es nicht fertiggebracht hatte, sie zu löschen.
    »Ich wüsste nicht, dass du gefragt hättest, ob du in Daddys Atelier darfst«, sagte Ritchie.
    »Du hast geschlafen«, sagte Dan. Er krallte sich an Karins Rock und sah zu ihr auf.
    »Mummy, Daddy blutet!«, sagte Ruby. »Und er schnauft so komisch.«
    Karin sah Dan an und strich ihm über den Kopf. »Ich weiß nicht, warum du dir Daddys Gitarre nicht ausleihen solltest«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Er spielt sie nie.«
    »Lass das«, sagte Ritchie. Karin blickte ihn an und Dan ebenfalls. Beide hatten eine kühle, fragende Miene wie zwei Ärzte, die er im Gespräch über seinen Fall unterbrochen hatte. »Sprich nicht mit Dan über mich, als ob ich nicht da wäre. Außerdem irrst du dich. Ich spiele ständig auf ihr.« Er hob die Gitarre hoch und sah »Ritchie«, vom Perlmuttinlay reflektiert, in leuchtender Spiegelschrift über Karin und Dan huschen. Beide hielten sich eine Hand vor die Augen, als sein Name über ihr Gesicht strich.
    »Guck doch hin«, sagte Karin. »Die zwei oberen Saiten sind gerissen und die andern sind völlig verstimmt.«
    »Mum, Daddy blutet!«, rief Ruby abermals. Sie lief zu Karin und zupfte an der anderen Seite des Rocks. Ruby war diejenige, die fraglos um ihn besorgt war, nicht aus Pflichtgefühl, sondern einfach so, da war sich Ritchie sicher. Sie war sechs, und er wusste, dass sie zeitlebens so für ihn empfinden würde, in jedem Alter. Mit Dan zu schimpfen war ein gefährlicher Fehler gewesen, erkannte er, denn er wusste nicht, wo das Telefon war, aber Dan oder Karin – oder beide! – konnten es wissen und nur den richtigen Zeitpunkt abwarten, um ihn zur Rede zu stellen. Er musste wieder Herr der Lage werden. Dabei fühlte er sich gar nicht herrschaftlich, weil seine Art, Herrschaft auszuüben, so gütig daherkam: mit Freundlichkeit, Großzügigkeit. Es war ihm noch nie in den Sinn gekommen, dass das Bestreben, das Monopol auf Großzügigkeit zu haben, das wesentliche Merkmal eines Despoten war.
    »Was ist mit deinem Bein?«, fragte Karin.
    »Ich bin auf den Fliesen ausgerutscht. Dan, komm her, zeig mir mal, was du spielen kannst.« Er hielt seinem Sohn die Gitarre hin.
    »Ich will nichts spielen«, sagte Dan, und flink wie eine Forelle schoss er davon und verschwand hinter der Eibe am Ende des Obstgartens.
    »Mum, kann ich Blätter auf Daddys Bein legen, damit es zu bluten aufhört?«, fragte Ruby.
    »Wenn Daddy dich lässt, Schatz.« Sie musterte Ritchie. Ihr Blick strich über das Blut, die abgetragenen Sachen, den Fleck am Bauch und das Stoppelkinn.
    Er hatte Angst, dass Karin ihn nicht liebte, was eine Katastrophe wäre, denn er liebte sie, und er liebte seine Kinder, und wenn sie ihn nicht liebte, wäre ihm das Vergnügen verdorben, sie zu
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