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Liebe Unbekannte (German Edition)

Liebe Unbekannte (German Edition)

Titel: Liebe Unbekannte (German Edition)
Autoren: István Kemény
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Tante Judit verschnupft. 51 10/8/2013 11:39:31 AM
    „Nein, Jutka, daraufhin habe ich gesagt, in Nyék sei der Winter keine Angelegenheit der Vergangenheit, sondern der Gegenwart. Denn es herrsche ein anderes Klima als in der Innenstadt.“
    „Wobei deine Stimme voller Vorwurf war“, sagte Tante Judit.
    „Das war kein Vorwurf, sondern nur das Feststellen einer Tatsache. Aber ich wundere mich über nichts, ich habe am Telefon genau gehört, dass die Geschichte bei Lajos in der Wanne ganz verzerrt ankam.“
    „Erstens: Die Wanne lassen wir mal schön aus dem Spiel“, ergriff wieder Onkel Lajos das Wort. „In Nyék gibt es auch eine Wanne und fließend Wasser. Ich bin nicht bereit, diese Anspielungen auf mich zu beziehen.“
    „Den Teufel werde ich Anspielungen machen. Den Teufel …“
    Hier gab Vater auf. Ich sah es ihm an. Traditionsgemäß weinte er beinah vor Wut.
    „Vater, komm“, sagte Gerda und fügte eisig hinzu. „Tomi, verabschiede dich auch in unserem Namen.“
    „Und zweitens: Wenn ihr nun einmal unter einer Plane schlaft, Kleiner, dann muss irgendetwas unternommen werden.“
    „Ihr sollt bitte gar nichts unternehmen, Lajos. Wenn ihr irgendetwas unternehmt, kommt dabei nämlich genau das heraus. Es ist immer das Gleiche, immer. Komm, Tamás. Vielen Dank für die Gastfreundschaft.“
    Vater war schon im Flur und schnappte sich die Übergangsjacken.
    „Kleiner Bruder, du bist ein großer Esel. Wir wollten dir helfen.“
    „Ihr habt schon genug geholfen. Ihr sollt mir nicht mehr helfen. Das wäre die größte Hilfe.“
    „Lajos und ich wissen ja, dass dir dein Stolz im Weg steht …“
    Daraufhin winkte Vater nur noch ab und verließ schnell die Wohnung. Ich blieb da, um mich zu verabschieden und mich für das Verhalten meiner Mutter, meines Vaters und meiner Schwestern zu schämen.
    „Lass meinem Bruder seinen Stolz“, sagte Onkel Lajos barsch zu Tante Judit. „Und du, sprich mal ein ernstes Wort mit deinem Vater“, wandte er sich an mich, küsste mich wie immer auf beide Wangen und verabschiedete sich von mir. Tante Judit tat es ihm gleich und drückte mir dabei einen durchlöcherten Karton in die Hand. In diesem saß der kleine Kater auf einem Umschlag, in dem hundert Forint für
Katzenfraß
waren – den wir nie fanden.
    „Das haben dein Muttilein und ich noch besprechen können“, sagte sie, um mich zu beruhigen. „Wenn Katerchen größer wird, zieht er in den Garten. Pass auf dein Muttilein auf, sie wird noch einen Nervenzusammenbruch bekommen.“
    Mit dem Karton in der Hand eilte ich vorsichtig die Treppe hinunter. Ich holte die anderen am Kai ein. Erika und Gerda trösteten Mutter. Vater sprach leise und höflich zu ihnen.
    „Bitte, hier ist die Gelegenheit. Ihr könnt ja zurückgehen. Lajos und Jutka haben euch angeboten, bei ihnen zu wohnen, bis bei uns zu Hause wieder Ordnung herrscht. Das ist eine einzigartige Chance. Macht ruhig. Geht.“
    „Ach, komm schon, Vater“, antwortete Erika.
    „Ich habe euch gesagt, dass es dazu kommen wird“, sagte Gerda kopfschüttelnd.
    „
Du Esel, streng dich an“
, sagte etwas, das jedoch nur ich hörte.
    Mutter sagte nichts.
    „Wir hätten wenigstens noch etwas essen können“, sagte ich. „Es ist so viel übrig geblieben.“
    Gerdas Blick durchbohrte mich. Vom Balkon aus der dritten Etage drang Tante Judits Stimme zu uns.
    „Eure Knochen, mein István! Ihr könnt doch nicht ohne die Knochen gehen. Eure kleinen Knochen! Sie sind hier geblieben. Schickt Tomilein hoch, um sie zu holen. Tomilein, mein Engelchen, komm zurück und hol die Knochen.“
    Die Spaziergänger, die an diesem Ostermontag den Kai entlang schlenderten, blickten überrascht zum Balkon.
    „Unsere kleinen Knochen“, sagte Mutter mit einem Seufzer und lächelte beinah. „Lauf hinauf und hol unsere Knochen.“
    Doch noch bevor ich hätte losgehen können, um unsere Knochen zu holen, erschien Onkel Lajos ebenfalls auf dem Balkon, schob Tante Judit beiseite und rief:
    „Gebt acht auf eure Köpfe.“
    Dann warf er geschickt eine Plastiktüte auf den Fußweg neben uns. Es waren Hühnerknochen darin.
    „Du Esel, streng dich an, zu lieben“
, sagte eine Stimme neben uns, aber es war keiner da. Selbst ich hörte sie kaum. Und wir machten uns auf den Weg nach Hause, nach Nyék, unter die Plane.

3.
„DAS CHRISTKIND IST
AUFERSTANDEN“
    Wir wohnten in jenem Winter tatsächlich unter einer Plane; wenn mich nicht alles täuscht, war es der Winter 1975–76, ja, ich bin mir
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