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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Autoren: Rainer Merkel
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den Griff bekommen können? Überall im Garten und auf der Terrasse stehen Windlichter und Kerzen. Im Haus ist es stockdunkel. Die Party ist bewusst aus dem Haus in den Garten und in die Natur ausgelagert, um die Eltern des Schnauzbärtigen nicht zu beschämen oder um sie im Gegenteil erst recht zu beschämen. Ich höre ein leises Stöhnen, das langsam lauter wird, während ich die Sessel auf der Terrasse erreiche, wo ein einzelner Mann sitzt, den ich nicht kenne. Erst sehr viel später, erst am Nachmittag, als ich von meinem sinnlosen Ausflug nach Greenpoint zurückkehre, der diese Nacht schließlich beendet, kommt die Angst. Eine Angst, die nur für einen kurzen Moment unterbrochen wird, als ich mit Judith in dem koreanischen Restaurant sitze und sie auf einmal sagt: »Also … Jetzt wollen wir doch mal sehen«, und dann breitet sie die Speisekarte vor sich aus, und ihr ganzes Gesicht wird vor Glück ganz weich und rosig. Die Angst lässt nicht nach. Auch der Vorgesetzte der KLM-Mitarbeiterin, der mich schließlich aus den Fängen seiner Kollegin befreit, kann sie nicht vertreiben. »Gehen Sie ruhig. Gehen Sie ruhig durch die Security.« Es löst sich alles in Wohlgefallen auf. Es ist ein älterer graumelierter Herr, der vielleicht bald in Pension geht. »Es ist ein Missverständnis«, sagt er. »Natürlich können Sie noch an Bord. Gehen Sie einfach durch die Security. Wir warten auf Sie.« Ich zwinge sie, nach New York zu kommen, und dann verbringen wir eine solche Nacht zusammen. Eine Nacht der Stille. Ich vergesse, sie zu berühren. Ich hätte ihr wenigstens einen Gute-Nacht-Kuss geben können. Ich brauche eine zweite Decke, aber es gibt für jeden Sitz nur eine. Einmal stehe ich auf, um auf die Toilette zu gehen, und als ich zu meinem Platz zurückkehre, sehe ich die Lichter in den Kopfstützen meiner Mitreisenden flackern. Niemand scheint ihnen noch groß Aufmerksamkeit zu schenken, während wir mit hoher Geschwindigkeit durch die Nacht fliegen. Die Filme laufen ganz für sich. »Hier ist alles still, und es passiert nichts«, fange ich in Gedanken einen Brief an Judith an, breche ihn aber wieder ab. Ich folge dem Pfad, der sich durch den kleinen Bambuswald schlängelt und auf einmal vor einer niedrigen Mauer endet, hinter der ein anderes Grundstück beginnt. Das Nachbargrundstück sieht genauso dunkel aus. Im ganzen Stadtteil ist der Strom ausgefallen. Rundherum sind alle Häuser dunkel und verlassen. »Bist du wach?« Es ist eine ganz vorsichtige Frage. Ich habe nachher das Gefühl, der Schnauzbärtige hat zugeschaut, wie ich im Garten seiner Eltern herumirre. »Ich würde es auch lieber drinnen machen«, sagt er, als ich zur Terrasse zurückkomme, wo er zusammen mit zwei anderen Gästen etwas trinkt. »Was denkst du? Sollen wir?« Und als ich nicht antworte und ihn nur erstaunt anschaue, das Glas mit den Eiswürfeln und dem Ginger Ale in der Hand, sagt er: »Hast du denn Lust, dass wir etwas zusammen machen?« Es hat etwas Fürsorgliches, wie er mir mit der Taschenlampe den Weg leuchtet, zurück zum Schlafzimmer. Er besteht darauf, ein Taxi zu rufen, und läuft dann sogar mit mir zur Straße, um sicherzugehen, dass es auch kommt. Er winkt mir zu und scheint nicht im Geringsten verärgert oder beleidigt zu sein. Judith lasse ich einfach so auf der Couch liegen, gehe morgens unter die Dusche und denke die ganze Zeit nur: Wir müssen diesen Spaziergang machen, wir müssen uns die Stadt anschauen. Ich breite die Decke über mir aus. Sie ist so dünn, dass die Luft der Klimaanlage einfach durch sie hindurchweht, und ich überlege, ob ich aufstehen soll, um nach einer zweiten zu suchen. »Liebe Judith«, fange ich in Gedanken an. »Ich schreibe dir erst jetzt, weil ich mein Notizbuch verloren habe. Es ist in meiner Tasche, und ich habe sie am Flughafen liegengelassen, direkt am Check-in. Ich wollte dich bitten, dass du … « Aber ich komme nicht weiter. Das Dröhnen der Klimaanlage und das Raunen der Düsenmotoren sind zu laut. Ich erinnere mich, dass ich einmal nachts aufwache in unserer Wohnung in München, und Judith ist noch nicht zurück. Sie ist mit ihren Freundinnen ausgegangen, und ich erinnere mich, welche Ängste ich ausstehen muss, als ich mir einbilde, es könnte ihr etwas passiert sein. Eine Stunde lang versuche ich, sie auf ihrem Handy zu erreichen. Ich rufe sogar Kyra an. Ich bilde mir ein, es sei etwas passiert. Wie leicht greift plötzlich das Schicksal in ein Leben ein und richtet
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