Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Autoren: Rainer Merkel
Vom Netzwerk:
während sie im Grunde meint: »Mach weiter.« Vor dem Spiegel kniend, die Hand vor den Brüsten, wartet sie darauf, dass die Zeit abläuft. Der Verkehr auf der Straße ist minimal. Eine Weile fährt überhaupt kein Wagen vorbei. Sollten Judith und Betty jetzt zurückkommen, würde sich alle zurückgehaltene Lust gegen sie wenden, gegen Judith gleichermaßen wie gegen ihre Tante. Ich erinnere mich, wie ich einmal in München, an Judiths Geburtstag, den wir ganz alleine zu Hause feiern wollen, noch am frühen Abend nach Giesing in die Untere Weidenstraße fahre, um eine Stunde vor dem Haus Nummer 14 darauf zu warten, dass einer der Stammkunden das Haus verlässt, um mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Es reichen zehn Minuten und 90 Euro. Es ist ein Kinderspiel, und auch Judith muss denken, ich sei wie durch ein Wunder von einer Trauer und Leere geheilt, die mich den ganzen Vormittag erfasst hat. Es ist die geheimnisvolle Kraft einer Maschinerie, die dafür verantwortlich ist und die meine Schuldgefühle in wahre Gefühle verwandelt, sodass ich schließlich zu Judith zurückkehren kann.

    Fliege ich wirklich mit Delta? Oder ist es nicht doch KLM? Vielleicht bin ich auf dem Hinflug mit Delta geflogen und fliege auf dem Rückflug mit KLM. Vor mir bleibt eine Gruppe Reisender stehen und versperrt mir mit ihren Rollkoffern den Weg. Erkenne ich es jetzt? Verstehe ich jetzt, was passiert ist? Ich schaue auf mein Ticket. Goddess @sugargirls.com. Die E-Mail-Adresse der Iranerin. Ihren Nachnamen will sie mir nicht verraten. Goddess. Ich schreibe ihr ein paar Tage später, in einem Anfall von Sentimentalität und aus Dankbarkeit für die Nacht, an der sie dann gar nicht mehr beteiligt ist, die Judith und ich auf unserem Schlafsacklager zusammen verbringen. Wir schlafen miteinander, vorsichtig und unsicher, vielleicht weil wir beide betrunken sind. Ich bleibe stehen, ich schaue auf mein Ticket: KLM. Ich fliege mit KLM. In diesen Momenten erkenne ich endlich die Bedeutung meiner Liebe zu Judith. Die ganze Reise über scheint sie kaum noch greifbar zu sein. Die Iranerin nimmt ihren Kleiderstapel und geht nach oben. Der Ortswechsel ist unumgänglich, und ich bin mir im Nachhinein selbst dankbar für meine Kaltblütigkeit. »Ich muss sie festhalten«, sagt sie, »sonst tun sie weh. Beeilst du dich?« Es dauert länger, als ich gedacht habe. Die Angst vor der Entdeckung verbindet sich mit ihrer Ungeduld und meiner Sorge, sie würde unsere Situation noch zusätzlich verkomplizieren, indem sie den Preis plötzlich erhöht. Sie rückt etwas vor, verschiebt den muffig riechenden Schlafsack, den ich von unten mitgenommen und in aller Eile über das Bett von Betty ausgebreitet habe. Die Münzen, die 5, 10, 20 und 50 Cent-Münzen, die Dimes und Quarters des gebrochenen Herzens verteilen sich im ganzen Haus. Die Iranerin quietscht vor Lachen. »Soll ich mir das irgendwo hinstecken?«, fragt sie. Ich schüttele den Kopf, als sie sich nach einem 20-Cent-Stück bückt, auf dessen Rückseite das Brandenburger Tor abgebildet ist. »Was ist denn das? Ein Tempel? Die Akropolis?« Ich geleite sie nach oben. Schon unterwegs lege ich mir eine Geschichte zurecht, wie ich versucht habe, das Herz aus unserem Schlafzimmer in das hellere Wohnzimmer zu tragen, um es dort zu fotografieren. »Aber du hast doch gar keine Kamera«, sagt Judith später, die furchtbar gerührt ist von diesem Versuch, ihre kleine Liebeserklärung zu dokumentieren. Es ist schließlich Aaron, der überall im Haus Geldmünzen findet. »Oben«, sagt er, am Tag unserer Abreise, aber da ist Judith zum Glück nicht mit im Raum, »habe ich auch eine gefunden. In Bettys Zimmer. Komisch was?« »In Bettys Zimmer?«, frage ich erstaunt und schaue Aaron entgeistert an.

    »Stimmt etwas nicht?«, fragt die Iranerin, als ich innehalte und sie im Spiegel anschaue. Ich überlege, ob ich sie bitten soll, dass sie sich umdreht. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich habe das Fenster geöffnet, um die Geräusche von der Straße hören zu können. Ein sich langsam näherndes Fahrzeug, das abbremst, zum Stillstand kommt und dann einen Augenblick lähmende und erschütternde Stille verbreitet, in der ich die erstaunlich schmalen Hüften der Iranerin festhalte, während sie ihrerseits ihre Brüste festhält und im Spiegel nach meinem Gesicht sucht. »Ist was?« Sie möchte sich am Ende sogar noch ein bisschen unterhalten, obwohl sie vorher so gedrängelt hat. Sie arbeitet tatsächlich als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher