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Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Lettie Peppercorn und der Schneehaendler

Titel: Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
Autoren: Sam Gayton
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Alchemie begann zu wirken.
    Lettie sah, wie die Gesichter der beiden grau wurden und ihre Hände sich in Scheren verwandelten. Sie sah, wie aus ihrer Haut ein Panzer wurde. Es war schrecklich, das mitansehen zu müssen, aber sie hatten es nicht anders verdient. Die alten Schachteln hatten sich in zwei riesige graue Hummer verwandelt. Sie krauchten über den Schiffsrand ins Meer, verschwanden in der Tiefe, und Lettie sah sie nie wieder.    
    (Den Rest ihrer Tage verbrachten sie im Schlick des Meeresbodens damit, Einsiedlerkrebse aus ihren Muschelschalen zu jagen. Eines Tages gingen sie einem Fischer ins Netz und wurden bei dem Hochzeitsmahl Ihrer Königlichen Hoheit Prinzessin Josefin von Laplönd aufgetischt. Doch sie schmeckten beide ganz zäh und bitter, und viele Gäste beschwerten sich darüber bei Prinzessin Josefin. Die heulte und stampfte mit den Füßen auf und hätte beinahe den Koch hinrichten lassen. Aber dann begnadigte sie ihn doch und verzieh ihm alles, denn bei der Untersuchung der beiden Hummer entdeckte er um die Schere des einen sechs goldene Ringe und am anderen einen Kandelaber-Ohrring.)
    Lettie sah zu, wie die Blutkübel in den Wogen verschwand. Ein letztes Gurgeln, dann war sie weg. Die Walfänger, die schon weit entfernt in ihrem Rettungsboot saßen, legten sich in die Riemen und machten sich an die lange Heimreise.

    »Geschieht ihnen ganz recht, nach allem, was sie deiner Großmutter angetan haben«, sagte Lettie zu Noah. »Was sie uns allen angetan haben.«
    Sie hegte kein Mitleid für die bösen, grausamen Männer, denn sie hatten eine wertvolle Lektion gelernt: nie mehr auf Wale oder kleine Kinder Jagd zu machen – sonst könnten die eines Tages zurückschlagen, und dann wehe …
    »Lass uns nach Hause gehen«, sagte sie und tastete in ihrer Tasche nach ihrem Vater. Noah wandte sich Richtung Land und schwamm los. Richtung Albion, Richtung Tauschdorf.
    Hinter ihnen schwebte die Schneewolke am Himmel. Sie hatte den letzten Tropfen Gastromajus abgeregnet, und damit auch ihren ganzen Zorn darüber, zehn Jahre lang gefangen gewesen zu sein. Jetzt hatte sie eine Farbe, die Lettie noch nie gesehen hatte. Sie war strahlend weiß.

8. Kapitel
    Die Rückkehr in die Einsamkeit

    Zwei Tage war Noah auf dem Meer unterwegs, mit Lettie eingenistet in seinen Ästen. Er ließ Äpfel für sie wachsen, und als sie keine Äpfel mehr sehen konnte, wechselte er zu Birnen. Lettie verbrachte die Zeit mit Klettern und Reden. Sie erzählte Noah ihre ganze Lebensgeschichte, von Periwinkle und ihrem Vater und ihrem Zuhause auf Stelzen. Nachts beobachtete sie die Sterne. Aber manchmal versperrte die Schneewolke ihr die Sicht, und dann hatte sie nichts außer ihren Gedanken an ihre Mutter.
    Manchmal dachte Lettie auch an Blüstav, wie er wohl am Meeresboden lag und von den Strömungen hin und her geworfen wurde. Sie konnte nicht anders, er tat ihr leid, trotz allem, was er getan hatte. Er hatte es nicht verdient, als Muschel auf dem Meeresgrund zu liegen, ganz allein.
    Schließlich kam der Augenblick, als Lettie die grauen Klippen von Albion am Horizont erspähte. Je näher Noah heranschwamm, desto besser erkannte sie die vertraute Biegung des Tales, in dem Tauschdorf lag. Und aus dem Dunst tauchten die ersten Schiffsmasten auf. Lettie sah die kleine Stadt immer größer und größer werden, bis Noah schließlich in den Hafen hineinglitt. Da waren die altbekannten kopfsteingepflasterten Gassen und die Schieferdächer, allesamt in schmutzigem Grün oder tristem Grau gehalten. Ein paar Händler verkauften am Kai Fisch. Es roch nach Essig, und das Klippklapp von Pferdehufen war zu hören. Mehrere Kinder standen am Anleger und starrten mit offenen Mündern Noah an. Unzählige Schiffe waren schon in den Hafen eingelaufen, aber noch nie ein Wal!
    Noah hielt am Anleger an und kippte seinen Baum nach vorn, sodass Lettie bequem herunterklettern konnte. Aber sie wollte nicht an Land, sondern klammerte sich am Stamm fest.
    Noah wartete. Er schüttelte sachte seine Äste, aber Lettie rührte sich nicht vom Fleck. In ihrem Herzen machte sich ein Gefühl breit, das sie seit der Abreise in Tauschdorf nicht mehr gehabt hatte: Einsamkeit.
    Denn ihre Mutter war, trotz all der bestandenen Abenteuer, immer noch irgendwo da draußen. Und Lettie mutterseelenallein.
    Ihr Vater war immer noch eine Bierflasche.
    Und Noah war immer noch ein Wal.
    Und das mit Noah jagte ihr die größte Angst ein, denn tief in ihrem Inneren wusste sie,
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