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Lesereise Schweiz

Lesereise Schweiz

Titel: Lesereise Schweiz
Autoren: Beate Schuemmann
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Wildhüter, ist dran«, sagt eine muntere, feste Stimme. »Schon wach?«, fragt er vorsichtig. Während andere um diese Uhrzeit noch schlaftrunken in den viel zu jungen Tag tapsen, ist Werner Holzer fit wie ein Turnschuh. In aller Herrgottsfrühe aufzustehen, ist eine seiner leichtesten Übungen.
    Punkt fünf Uhr steht der Waidmann ohne Jagdpassion und Repetiergewehr vor der Tür, um mich zur Wildbeobachtung abzuholen. »Später geht’s nicht«, sagt der braun gebrannte Mann mit dem grauen Schnauzer und dem grünen Federfilzhut fast mitleidig. »Um acht ist das Rotwild verschwunden«, versichert er. »Wenn erst die Sonne aufgegangen ist, wird es zu heiß für sie. Die Fliegen fangen an zu plagen, und dann verbergen sich die Tiere im Schatten der Erlensträucher.« In der Natur hat alles einen triftigen Grund, und Holzer kennt sich aus.
    Wir steigen in den mattroten Wagen ein, ein einfacher Fiesta, der mit guter Pflege noch ein paar Jahre halten wird. Äußerlichkeiten sind Holzer fremd, Landjunker und Champagnertrinker ist er auch nicht. Hinter dem Dorf Grafschaft mit den nostalgischen Walliser Holzhäusern biegt er auf den holprigen, kurvigen Waldweg in sein Wildbeobachtungsrevier im Gomstal. »Ich liebe die Natur, weil sie eine klare Linie hat«, sagt Holzer. »Das ist wie Mathematik.« Überhaupt ist Präzision seine Sache. Bis vor zwei Jahren sorgte der gelernte Maschinenzeichner in einem Feinmechanikerbetrieb, der Medizinalsägeblätter für die Chirurgie herstellt, für die Qualitätssicherung. Mit fünfundfünfzig Jahren hängte er den Beruf an den Nagel, um sich ganz der Natur zu verschreiben. »Die Dinge, auf die es im Leben ankommt, lernt man nicht am Schreibtisch, sondern draußen im Wald.«
    Dafür nahm er erhebliche Einbußen bei der Rente hin. Das nötige Kleingeld hatte er sich in den Jahren davor zur Seite gelegt. »Wenn ich etwas anfange, dann richtig!« So wie er das sagt, nimmt man ihm es ab. Früher hat auch er bei der Jagd Testosteron und Frustration abgebaut. Mehrere Hirschgeweihe unter dem Giebel seines mit Geranien geschmückten Hauses erzählen davon. Doch die Waffen sind längst eingemottet: Heute trägt er nur noch den Feldstecher bei sich.
    Der Ruhestand machte ihn zum Hilfswildhüter – ein unbezahlter Fulltimejob. Er ist einer der sechs Robin Hoods der Natur, die es nur zwischen Furkapass und Binntal gibt. Auch wenn an erster Stelle gute Forstfähigkeiten und Kenntnisse von Flora und Fauna Voraussetzung für den Posten sind, kommt man an das Ehrenamt nur durch Ernennung. Die Aufgaben gleichen denen des Wildhüters. Der Assistent unterstützt diesen in der Wildhege und -pflege und bei den Bestandszählungen, er kontrolliert den Waldzustand und führt zu seinem Privatvergnügen Wildbeobachtungen.
    »Die Natur kann ohne uns leben. Doch wir nicht ohne die Natur«, erklärt der gebürtige Gommer sein Engagement. Auch darin vertritt er gern eine klare Linie, weshalb er immer wieder aneckt. Ihn stört das nicht. Er spricht offen aus, was er denkt und was ihm nicht passt. Besonders bei der Jagdlobby. »Viele Jäger legitimieren die Jagd immer mit der angeblich notwendigen Bestandsregulierung, mit Wald- und Kulturschäden. Doch das stimmt so nicht.« Den vehementesten Verfechtern geht es selten um die Erhaltung des natürlichen Gleichgewichts, sondern um das eigene. Trophäen sind nur ein Ausdruck dafür. »Man erkennt das daran, dass sie Raubwild wie etwa Füchse praktisch gar nicht erlegen. Obwohl sie die schlimmsten Überträger von Tollwut und Fuchsräude sind.« Doch der Staat zahlt pro Stück nur eine Prämie von fünfzehn Schweizer Franken. »Manche Jäger nehmen sich nicht einmal die Zeit, das Fell abzubalgen. Das Abziehen dauert eine gute Stunde, wenn man es richtig macht.« Vor der Anti-Pelz-Kampagne hatte ein guter Fuchsbalg an die hundert Franken gebracht. Heute lassen die Jäger den erlegten Fuchs einfach liegen.
    Wir stapfen durch das taunasse Gras und über einen Gebirgsbach zum Beobachtungsposten. Holzer kennt jedes Kraut am Wegesrand mit Namen. Hier der blau blühende Storchenschnabel und der Ehrenpreis, dort die roséfarbene Ackerkratzdistel. Hinter der Bieliger Alm postiert er sich auf einer schattigen Erhebung, von der wir eine gute Sicht auf den Berghang gegenüber, in den Taleinschnitt und auf den rückwärtigen Hang haben. Sehen, aber nicht gesehen werden, heißt die Devise, »auch um das Wild nicht zu stören«, betont er, während er das dreibeinige Spektiv, das
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