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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Autoren: Victor Hugo
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zum zweiten hat er nicht Javert getötet, weil Javert Selbstmord begangen hat.«
    »Beweisen Sie das!« schrie Marius außer sich.
    »Der Polizeiagent Javert wurde unter dem Pont-au-Change aus dem Wasser gezogen.«
    »Beweise!«
    Thénardier zog einen Umschlag aus der Tasche, in dem zusammengefaltete Blätter von verschiedener Größe lagen.
    »Das sind meine Akten«, sagte er ruhig. »Herr Baron, ich habe mich in Ihrem Interesse gründlich mit Jean Valjean beschäftigt. Wenn ich sage, daß Jean Valjean Madeleine ist und daß Javert sich selbst getötet hat, so habe ich auch die Beweise in der Hand. Nicht geschriebene, denn diese sind ja verdächtig, man kann schreiben, was man will, aber gedruckte.«
    Er zog zwei vergilbte, rauchgeschwängerte Zeitungsblätter heraus.
    »Zwei Tatsachen, zwei Berichte«, sagte er.
    Er reichte Marius die beiden Blätter, die der Leser bereits kennt. Das eine, ältere, war eine Nummer des »Drapeau blanc« vom 25. Juli 1823, in der die Identität Madeleines und Jean Valjeans festgestellt wurde. Das andere eine Nummer des »Moniteur« vom 15. Juni 1832, in der der Selbstmord Javerts gemeldet und von einem Bericht des Polizeiagenten erzählt wurde, daß er auf der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie durch den hochherzigen Entschluß eines Insurgenten gerettet worden sei, der ihn, statt ihn befehlsgemäß zu erschießen, laufen ließ.
    Marius las. Hier hatte er es mit unanzweifelbaren Tatsachen zu tun, denn diese Blätter konnten nicht gedruckt worden sein, nur um Thénardiers Behauptungen zu bestätigen. Der Bericht des »Moniteur« war ein Communiqué der Polizeipräfektur. Marius konnte nicht zweifeln. Der Kassierer hatte sich offenbar getäuscht. Plötzlich wuchs Jean Valjean zu gewaltiger Größe an, trat aus dem Dunkel hervor.
    »Ja, aber dann ist dieser Unglückliche ein bewunderungswürdigerMann! Das Vermögen gehörte ihm also wirklich! Er ist Madeleine, der Retter Javerts! Ein Held! Ein Heiliger!«
    »Weder ein Held, noch ein Heiliger«, antwortete Thénardier. »Ein Dieb und ein Mörder.«
    »Noch immer?«
    »Noch immer. Er hat zwar nicht Madeleine bestohlen, aber er ist ein Dieb. Er hat nicht Javert ermordet, aber er ist ein Mörder. Ich will Ihnen alles sagen, Herr Baron, und ich verlasse mich, was die Entlohnung betrifft, auf Ihre Güte. Dieses Geheimnis ist gemünztes Gold wert. Herr Baron, am 6. Juni 1832, vor etwa einem Jahre, an dem Tag der Rebellion, hielt sich ein Mann in der Sammelkloake auf, dort, wo sie sich in die Seine ergießt, zwischen dem Pont-des-Invalides und dem Pont-d’Jéna. Dieser Mann mußte sich aus Gründen, die übrigens nichts mit Politik zu tun hatten, verbergen. Darum hatte er die Kloake zu seinem Wohnsitz auserkoren und sich einen Schlüssel verschafft. Dies geschah, wiederhole ich, am 6. Juni. Es mochte gegen acht Uhr abends sein. Da hörte dieser Mann in der Kloake ein Geräusch. Sehr verwundert duckte er sich und hielt Ausschau. In der Dunkelheit näherten sich Schritte. Es war sonderbar, in dieser Kloake befand sich außer ihm noch ein Mann. Das Gitter war nicht weit von dieser Stelle entfernt. Immerhin ließ es genug Licht durch, daß jener Mann den Neuankömmling ziemlich gut sehen und etwas bemerken konnte. Dieser Mann ging gebückt. Er trug etwas auf dem Rücken. Und dieser Mann, der da gebückt ging, war ein alter Galeerensträfling, der Gegenstand aber, den er auf dem Rücken trug, war ein Leichnam. Also: ein Mörder, in flagranti ertappt. Was den Diebstahl betrifft, so versteht er sich von selbst. Denn für nichts und wieder nichts bringt man niemand um. Der Sträfling wollte also seinen Leichnam in den Fluß werfen. Ein Umstand war besonders auffällig. Bevor der Mörder zu dem Gitter gelangen konnte, mußte er an einem Schlammloch vorüberkommen, und in dieses hätte er die Leiche ganz gut werfen können. Allerdings, die Kanalräumer hätten am nächsten Tage den Toten gefunden, und man hätte sich nach dem Mörder auf die Suche gemacht. So hatte er es vorgezogen, mit seiner Last durch dieses Schlammloch hindurchzuwaten, und das muß furchtbar schwer gewesen sein. Da hieß es sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Mir ist es noch heute unbegreiflich, wie er dabei lebendig herausgekommen ist. Herr Baron, die Kloake ist nicht dasMarsfeld. Man ist dort etwas beengt. Wenn zwei Menschen in der Kloake sind, müssen sie einander notwendigerweise begegnen. Und das geschah. Der Mann, der hier seinen Wohnsitz aufgeschlagen hatte, und der
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