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Leonard Bernstein

Leonard Bernstein

Titel: Leonard Bernstein
Autoren: Jonathan Cott
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Dirigieren von vier Schlägen in einem Takt war keine mathematische Angelegenheit, sondern eine emotionale Erfahrung. Ich kann noch heute seine Stimme hören, ich erinnere mich daran, wie er mir Anweisungen gab zu einem langsamen, weichen Viervierteltakt – legato , wie die Musiker sagen. ›Eins-und-zwei-und-drei-und … es muss varrrm sein, varrrm vie tie Sonne!‹, sagte er oft. Verstehen Sie, er kam nicht im Traum darauf, einfach vier tote Schläge zu zählen, einfach eins, zwei, drei, vier. Es ging immer darum, was zwischen den Taktschlägen passierte; wie die Musik sich von einem Taktschlag zum nächsten bewegte … und plötzlich wurde der Takt lebendig. Auf einmal war es eine aufregende Erfahrung, einfach nur den Takt zu schlagen.«
    Kussewizki und die ihn bewundernden Dirigierschüler sollten später enge Freunde werden. Bernstein zitierte sehr gern einen berühmten Ausspruch seines Lehrers, der in seinem gebrochenen Englisch gesagt hatte: »Ich verrrde errrst zu prrroben aufhören, venn es nicht mehr schöner virrrrd.« Und als junger Maestro dirigierte Bernstein kein Konzert, ohne die geliebten Manschettenknöpfe zu tragen, die Kussewizki ihm einst geschenkt hatte; bevor er auf die Bühne ging, pflegte er sie zu küssen. Jetzt, am 19. August 1990, sollte das Boston Symphony Orchestra zur Feier des fünfzigsten Jahrestags der Gründung des Tanglewood Music Center ein Konzert im dortigen Shed , der Musikarena, spielen, und nur ein Fall von höherer Gewalt hätte Bernstein daran hindern können, dieses Jubiläumskonzert selbst zu dirigieren.
    Irgendwann während unseres Gesprächs im November des vorangegangenen Jahres hatte ich ihm eine Geschichte über den französischen Schriftsteller und Filmemacher Jean Cocteau erzählt, der eines Morgens beschlossen hatte, einen bestimmten Häuserblock in Paris aufzusuchen, in dem er aufgewachsen war. Er erinnerte sich, wie er als Kind immer mit den Fingern über die Wände des Gebäudes gefahren war, und tat nun das Gleiche wieder, in der Hoffnung, auf diese Weise eine fühlbare Verbindung mit der Vergangenheit herstellen zu können. Doch es gelang ihm nicht, weil ihm plötzlich klar wurde, dass er ja als Kind viel kleiner gewesen war. Er beugte sich also mit geschlossenen Augen nach unten und ließ seine Finger auf niedrigerer Höhe über die Wände fahren – und später schrieb er: »Wie die Nadel die Melodie von der Platte abnimmt, so erfuhr ich die Melodie der Vergangenheit mit meiner Hand. Plötzlich kamen all die Dinge aus meiner Kindheit zurück: mein Regenmantel, das Leder meines Schulranzens, die Namen meiner Freunde und meiner Lehrer, gewisse Ausdrücke, die ich benutzt hatte, der Klang der Stimme meines Großvaters, der Geruch seines Barts, der Geruch der Kleider meiner Schwester und meiner Mutter.«
    Bernstein hatte sich diese Geschichte angehört und dann von Tanglewood gesprochen und davon, was dieser Ort für ihn bedeutete. »Er ist mir sehr lieb, denn dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich so viel gelernt – und dort kann ich die Wand genau auf der richtigen Höhe berühren. Wenn ich nach Tanglewood zurückkehre, tue ich das – ich beuge mich hinunter und berühre die Wand und fühle, wie es 1940 war, als ich anfing, dort zu studieren, und das erste Mal dort spielte. Genauso war es, als ich 1973 nach Harvard zurückkam, um meine Vorlesungen zu halten, da musste ich auch unbedingt diese efeubewachsenen Wände berühren. Ich wohnte sogar im Eliot House, in demselben Gebäude, wo ich auch als junger Student gelebt hatte.«
    Und jetzt, fünfzig Jahre später, stand Bernstein wieder vor dem Boston Symphony Orchestra am Pult und dirigierte Beethovens 7. Sinfonie, ein Werk, das er immer wieder neu zu begreifen versuchte – wie er mir bei unserem Gespräch berichtet hatte. Aber während er das Scherzo des dritten Satzes dirigierte, bekam er einen Hustenanfall, begann, nach Atem zu ringen, und erlitt um ein Haar einen Zusammenbruch; dann aber hielt er sich am Geländer fest, und es gelang ihm irgendwie, genug Kraft aufzubringen, um das Konzert zu beenden. Dabei kommunizierte er mit dem Orchester fast ausschließlich mit seinen Augen, Schultern und Knien.
    Leonard Bernstein hatte oft seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht, am Pult zu sterben, aber das sollte nicht geschehen. Am 9. Oktober erklärte er, dass er von nun an nicht mehr öffentlich auftreten werde, und er machte dabei die herzzerreißende Bemerkung: »Sehen Sie, ich habe Gott verloren, und ich
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