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Lemmings Himmelfahrt

Lemmings Himmelfahrt

Titel: Lemmings Himmelfahrt
Autoren: Stefan Slupetzky
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geziemende Schuldbewusstsein der Christenheit über die Jahrhunderte aufzusaugen und zu konservieren scheint. Die überquellende Fülle barocker Schnörkel, wuchernder Kapitelle und Kartuschen, verschlungener Rocailles und Rosetten, Guarinesken und Bandelwerke widerlegt diesen Eindruck nicht; sie verstärkt den Kontrast zwischen himmlischem Prunk und irdischem Elend noch. Die goldenen Putten, die prall und feist auf den Lemming herabblicken wie verschrumpelte Michelin-Männchen: Sie haben in Wahrheit ein Herz aus Gips.
    Der Lemming schleicht durch den menschenleeren Raum, lässt sich auf eine der Holzbänke sinken und schließt die Augen. Stille, endlich Stille. Abgeschiedenheit. Schutz   … Braucht er Schutz? Er weiß es nicht. Noch ist es ihm unmöglich, die Tragweite der Ereignisse zu begreifen. Ein klarer Gedanke, das ist es zunächst, was er braucht   …
    In seine Wohnung kann er nicht mehr, so viel steht fest. Klara um Hilfe zu bitten kommt ebenso wenig infrage. Nein, Klara wäre die Letzte   … Zurück an den Tatort? Sich den ermittelnden Beamten als Zeuge zur Verfügung stellen? Die ganze Sache aufklären? Was gibt es denn aufzuklären? Er versucht, sich der vergangenen Stunden in allen Einzelheiten zu erinnern, er versucht auch, sich auszumalen, was wohl inzwischen geschehen ist, drüben am Naschmarkt. Er sieht den regennassen Asphalt, auf dem sich die blinkenden Lichter der Einsatzwagen spiegeln, er sieht die Absperrungen, bewacht von mürrischen Streifenpolizisten, die bei diesem Wetter vor die Türen ihrer Wachzimmer gejagt worden sind wie räudige Hunde. Er sieht die beiden Männer mittleren Alters, wie sie in ihren billigen Anzügen die Straße überqueren und das
Café Dreher
betreten. Es fällt ihm nicht schwer, das alles zu sehen: Er hat früher selbst so einen billigen Anzug getragen   …
    «Er wusste, wie ich heiße   … Woher wusste er   …» Vom Klang der eigenen Stimme erschreckt, zuckt der Lemming zusammen. Seine Hand fährt instinktiv zum Hosenbund, in dem die kleine, silberne Mordwaffe steckt.
    «Ich kann nicht zurück   … Unmöglich   … Keiner wird mir glauben   …»
    Die beiden Herren von der Mordkommission haben wahrscheinlich schon begonnen, die Gäste des
Dreher
zu verhören. Einer stellt die Fragen und schreibt Namen und Fakten in sein abgewetztes Notizbuch, der andere lauscht aufmerksam und zieht schließlich ein Handy aus der Tasche. «Wallisch», raunt er in den Hörer. «Ja, genau. Poldi oder Leopold, angeblich Exkollege   … Nein, Abteilung weiß i net   … Was habts ihr über den?»
    Der Lemming stöhnt auf und verbirgt das Gesicht in den Händen. Seine Daumen beginnen, die schmerzenden Schläfen zu massieren, so wie seine Großmutter es manchmal getanhat, damals, als er noch ein Kind gewesen ist. Langsam streicht er sich durch die Haare nach hinten, bis seine Finger das Klebrige, Feuchte berühren, das Souvenir des Todes in seinem Nacken.
    «Gottverfluchter Scheißdreck!» Der Lemming springt auf und steuert quer durch den Hauptraum auf eine der Seitenkapellen zu. Er sieht sich um, vergewissert sich, noch immer alleine zu sein, steigt dann über die kniehohe Balustrade und hält vor dem Beichtstuhl an. Schwer und drohend steht der dreigeteilte Schrank vor ihm, das dunkle Holz zerfurcht von Ornamentschnitzereien, links und rechts mit zwei halblangen Vorhängen versehen, dazwischen mit einer durchbrochenen Tür, die den Priester vor neugierigen Blicken schützt. Es ist ein barocker Seelentransformator, eine kathartische Zauberbox, die Sünder aufnimmt und Geläuterte ausspeit, also auch eine Art Umkleidekabine   …
    Der Lemming öffnet die Mitteltür und tritt in den Beichtstuhl. Er wartet, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, zieht dann Jacke und Hemd aus und inspiziert den entstandenen Schaden. Das Hemd ist gerade noch tragbar, so entscheidet der Lemming. Es weist zwar einige kleinere Kleckse auf, doch er kommt zu dem Schluss, dass ein Mann mit ein bisschen Hirn am Hemd immer noch weniger auffällt als ein Mann ganz ohne Hemd. Die Jacke ist dagegen nicht mehr zu gebrauchen. Auf dem Kragen prangt ein dicker Blutfleck, von dem mehrere braune Schlieren sternförmig nach unten weisen, um sich erst spät im groben Stoff zu verlieren. Der Lemming wendet die Jacke, knotet sie zu einem Bündel, öffnet die Tür und lässt seinen Blick abermals durch den Kirchenraum schweifen. In der Nähe des Haupteingangs, halb verdeckt von einem der wuchtigen
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