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Lelord, Francois

Lelord, Francois

Titel: Lelord, Francois
Autoren: Hector
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Freundlichkeitswerte
unpassend; der Zeiger sollte etwas mehr in Richtung Härte ausschlagen. Hector war
zufrieden, dass er sich mit seiner Berufswahl nicht geirrt hatte - wohl genauso
wenig wie Leutnant Ardanarinja ...
    Dann
musste er wieder an Edouard denken. Sein Freund erzielte eindeutig extrem hohe
Werte in »Offenheit für neue Erfahrungen« und »Extraversion«. Seit jeher hatte
er sich schnell gelangweilt; immer hatte es ihn nach Neuem verlangt. Dass er
sich so rasch langweilte, wurde wahrscheinlich noch dadurch verschärft, dass er
die meisten Dinge schneller kapierte als alle anderen: Im Schulunterricht
hatte er immer als Erster die Lösung einer Aufgabe gehabt, und später war er
sehr schnell durchs Studium gekommen. Sobald er sich zu langweilen begann (und
das war oft), hatte er den Beruf gewechselt, die Frau, das Land und die
Sprache; immer drängte es ihn, die nächste Herausforderung zu finden, und
»Endlich mal was Neues!« war sein Lieblingsspruch.
    Was nun
die Extraversion anging, so war Edouard sehr gern in Gesellschaft, und vor
allem machte es ihm Spaß, im Mittelpunkt zu stehen; er lachte gern und brachte
die anderen zum Lachen, und überhaupt war er sehr empfänglich für die Versuchungen
des Augenblicks, für alles, was aus der Außenwelt auf ihn einströmte. (Wenn Sie
hingegen introvertiert sind, achten Sie wie Karine eher auf das, was in Ihrem
Inneren vor sich geht.)
    Hector hatte
den Eindruck, dass diese beiden Komponenten Edouard diesmal hatten zu weit
gehen lassen.
    In der
Pause zwischen zwei Konsultationen zog er die Schublade seines Schreibtischs
auf und holte einen bereits aufgerissenen Briefumschlag hervor, auf dem in
Schönschrift sein Name und seine Adresse standen und der mit exotischen
Briefmarken geschmückt war. In dem Umschlag steckte eine Weihnachtskarte.
Leutnant Ardanarinja und ihre Kollegen von Interpol hatten wahrscheinlich
längst alle seine E-Mails durchforstet, aber dieses gute alte
Kommunikationsmittel hatten sie übersehen.
    Die Karte
war aus schönem cremefarbenen Karton und hatte an den Rändern aufgeprägte
Girlanden aus Christbaumkugeln und Mistelzweigen. In die Mitte hatte Edouard
ein Foto geklebt. Vor einer Kulisse aus waldbedeckten Hügeln - man konnte
Palmen und Bananenstauden ausmachen, jedenfalls waren das die einzigen
Pflanzen, die Hector erkannte - stand Edouard in Shorts und khakifarbenem
Hemd. Er war ziemlich abgemagert, und sein blauer Blick schien eindringlicher
geworden zu sein, ein bisschen, als hätte er Fieber. Ein Stück weiter im
Hintergrund sah man eine Gruppe junger asiatischer Männer und Frauen. Die
jungen Männer trugen schwarze Tuniken mit rot bestickten Aufschlägen, die
jungen Frauen weiße Tuniken und Hauben, und geschmückt waren sie mit silbernen
Anhängern. Alle hatten den Blick auf Edouard gerichtet, und auf ihren frischen
Gesichtern konnte man so etwas wie fromme Verehrung lesen. In der Ferne, über
den Bergen, ballten sich bedrohliche Wolken zusammen.
    Unter das
Foto hatte Edouard nur wenige Worte geschrieben:
    Jenes Feuer vor mir ist erloschen. Und noch ein bisschen weiter unten stand: Mach dir
keine Sorgen, mein Freund. Glaub ihnen nicht. Warte auf mich.
     
    Hector zögert
     
    Dagegen dürfte es schicklich sein,
ungerufen und ungesäumt zu den Freunden hinzugehen, wenn sie von Missgeschicken
betroffen worden sind.
    Aristoteles
     
    Weil die
Leute denken, dass Psychiater das Leben besser begreifen als du und ich, wurde
Hector bei Abendessen oft gefragt: »Glauben Sie, dass Freundschaft zwischen
einem Mann und einer Frau möglich ist?« Und dann antwortete er: »Ja, gewiss
doch. Nur nicht, wenn sie sich gerade lieben ...«
    Meistens
lachten die Umstehenden dann laut, denn sie verstanden, was Hector damit sagen
wollte: Eine Freundschaft zwischen Mann und Frau ist ziemlich riskant. Die
Liebe oder auf jeden Fall das Begehren ist wie ein schelmisches Teufelchen,
das die allerreinste Freundschaft schnell umkippen lassen kann (oder
jedenfalls eine Freundschaft, von der man zuerst angenommen hatte, sie sei
völlig rein).
    Deshalb
sagte sich Hector, dass er großes Glück hatte, denn für ihn war Clara, seine
Frau, wie eine Freundin, mit der er außerdem noch gerne Liebe machte. Jeden
Morgen wachte er mit der Hoffnung auf, dass es noch lange so bleiben möge, und
das ließ ihn auch aufmerksam sein, denn in früheren Jahren hatte er schon ein
paar Liebesbeziehungen durchlaufen, die sich mangels Aufmerksamkeit abgenutzt
hatten, und auch in
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