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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine
Autoren: Nachtkrater
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die innere Röhre, das spinale Treppenhaus.
    »Ah!«, rief Gonzo, den Blick geweitet, wenngleich die Decke kaum zwei Meter über uns lastete. Eine steile Treppe schmiegte sich auf einer Kreisbahn empor und verdrückte sich durch ein Loch in der Decke. Eine vage Erinnerung an den Polizeigewahrsam im Stuttgarter Prä sidium kroch mir ins limbische System: der Geruch nach menschlichen Fäkalien. Doch Gonzo lachte nase n taub und glücklich. Sein Traum erfüllte sich.
    Dabei war alles noch viel kleiner und enger, als ich es mir bei Durchsicht der Bilder von der Artemis im Inte r net vorgestellt hatte. Immer stieß man mit dem Ellbogen oder Kopf irgendwo an, immer in Gefahr, den falschen Schalter zu treffen und irgendwas Wichtiges lahmzul e gen oder abzubrechen und sich in Kabelgirlanden zu e r hängen.
    Sie alle kennen vermutlich das Foto, das jeden Ze i tungs- oder Internetartikel über die Mondstation illus t riert: der aufgeschüttete Pylon aus Mondstaub, aus dem die ober s ten Enden der sechs senkrecht stehenden runden Module herausragen wie die Zipfel praller weißer Wür s te, die man ringförmig zusammengebunden hat. Jede Wurst hat ein Bullauge und obenauf sitzt die Cupola mit ihren sechs Panoramafenstern und dem sechseckigen Decke l fenster aus getöntem Spezialglas. Wie eine futurist i sche Berghütte auf einem Erdkegel wirkt die Artemis. Nur die Röhren, die unten aus dem Bergkegel herausfahren, ve r raten, dass der Hauptteil des Habitats im Verbo r genen liegt, zum Schutz vor Strahlung und kleinen Meteorite n einschlägen. Der Mond hat ja keine Atmosphäre, in der Sternschnuppen verglühen.
    Vermutlich wissen Sie auch, dass die Module aus e i ner dreißig Zentimeter dicken Haut aus Druck- und Is o lierschichten bestehen und nur durch den Innendruck prall gehalten werden, und Sie haben sich sicher auch schon beklommen gefragt, was passiert, wenn ein Mete o rit unglücklich einschlägt, ein Kran umfällt oder der Lu- Bus seinen Landeplatz verfehlt. Schnurpelt dann alles in sich zusammen wie ein Luftballon?
    In echt und von innen betrachtet, wirkte die Artemis wie eine Mischung aus Intensivstation, Heizungskeller, Labor, Werkzeugkasten und Pfadfinderzelt. Zuleitungen für Belüftung, Heizung und Wasser liefen wie vergess e ne Feuerwehrschläuche an den Fußkanten entlang und rü s selten durch Löcher in obere und untere Decks. Bloß nicht drauftreten! Gebündelte Kabel verfolgten ihre W e ge. Kästen, Relaisstationen und Messeinheiten blinkten, schnaubten und piepsten in allen Ecken und Zwickeln. Roboterarme warteten auf Aufgaben. Überall war nac h träglich noch was hingebastelt, Kästchen, Gitter, Ge päc k netze, Verzweigungen. »Bricolage«, fiel mir ein, das französische Wort für Pfusch, das sich von Heimwerken herleitete. Mit beängstigender Ergebenheit hatte mein Hirn angefangen, sich ins Französische einzugrooven. Was für eine Wahl hatte ich auch gehabt in der Enge der Fähre? Gonzo, der Deutsche, hätte es gehört, wenn ich beim Kotzen deutsche Schimpfwörter gemu r melt hätte.
    »Don ’ t jump!«, warnte uns Tamara, als es Franco wieder mal vom Boden lupfte.
    Ein Rechenexempel aus meiner Schulzeit folterte me i ne Denkmaschine. Auf der Erde überspringt ein Hochspri n ger zwei Meter. Wie hoch springt er auf dem Mond, wenn man annimmt, dass die Gravitation dort nur ein Sechstel der irdischen beträgt? Alles Mumpitz! Drei T a ge Schwerelosigkeit hatten die Kraft meiner Muskeln auf den Status von drei Tagen grippaler Bettlägerigkeit red u ziert.
    Die Krankenstation zog sich über drei der kreisrunden Module. Im Artemis-Jargon hieß sie HHR, human health and recreation , gesprochen Eitsch-Eitsch-Ar, und war OP, Labor, Reha und Fitnessraum in einem, aber auf kleinstem Raum. Tamara lieferte uns in einem Segment mit Fahrradergometern und Schüttelbrettern ab, die mit Monitoren und Messstationen in den Wänden verkabelt waren. Über allem lag ein Hauch klinischer Tödlichkeit.
    »Ah, die Greenhorns!«, empfing uns Dr. Wathelet. Sein schütteres Haar verriet Alter, sein Gesicht war glatt und jung. Gonzo und Franco hatten auf dem Flug ebe n falls puffy faces bekommen. Ich vermutlich auch. Das Blut sank einfach nicht in die Beine. Und auf dem Mond war der Effekt offensichtlich auch noch vorhanden.
    »Leider habe ich nur zwei Fahrräder«, sagte der Arzt mit leicht französischem Einschlag und Spritze in der Hand. »Auf dem hier kann ich den Mont Ventoux ei n stellen, original Tour-de-France-Kurs. Wer will
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