Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
könnte er nicht glauben, dass ihn ein Fremder so früh am Morgen ansprach.
    Ein paar Minuten später wälzte sich ein beständiger Strom von Ankömmlingen durch die Türen und wurde von der Ankunftshalle absorbiert. Nach einer Weile dünnte der Strom aus, bis sich nur noch erschöpfte Familien mit Kindern und Babys herauskämpften. Die Rollstühle bildeten das Ende.
    Seine Frau war nirgendwo zu sehen.
     
    Dafür gab es natürlich mehrere Erklärungen. Ihr Gepäck konnte verlorengegangen sein, und sie füllte noch immer die entsprechenden Formulare aus. Oder sie war beim Zoll oder an der Passkontrolle aufgehalten worden, für eine Überprüfung oder aus Versehen. Jackson war einmal stundenlang festgehalten worden, weil sich die Beschichtung in seinem abgenutzten Pass löste. Er wartete weitere zwanzig Minuten, diesmal nicht mit buddhistischer Geduld, sondern mit hirtenhundgleicher Aufregung.
    Sie musste den Flug versäumt haben, sagte er sich. Sie hatte ihm wahrscheinlich eine SMS geschickt oder ihn angerufen. Vielleicht hatte Andrew Decker eine frohgemute Nachricht auf seinem BlackBerry gelesen (Musste Flug umbuchen oder Wurde rausgeschmissen! Komme mit dem nächsten Flug).
    Vielleicht hatte er sich mit dem Flug getäuscht, sein Gehirn war bei dem Zugunglück durcheinandergeraten, Hackfleisch im Hirn, hatte Louise gesagt.
    Er versuchte Tessa an einem Münztelefon anzurufen, aber er hatte kaum Münzen, Reggies Geld war nahezu vollständig für die Busfahrt draufgegangen.
    Schließlich machte er sich auf die Suche nach jemandem von der Fluglinie, und eine Frau (»Lesley«), gekleidet in eine Uniform, in der sie in einem Kessel Heinz-Tomatensuppe hätte ertrinken können, ohne dass es jemand gemerkt hätte, setzte ihn davon in Kenntnis, dass niemand namens Tessa Webb auf der Passagierliste stand.
    »Dann hat sie den Flug verpasst«, sagte Jackson.
    »Sie war nicht auf diesen Flug gebucht«, sagte Lesley und starrte auf den Bildschirm. »Auch nicht auf einen anderen Flug. Wir haben überhaupt niemanden mit diesem Namen in unserem Computer.«
    Vielleicht hatte sie ihm die falsche Fluglinie genannt, er hatte ihr Ticket nicht gesehen, vielleicht war sie mit British Airways und nicht mit Virgin geflogen. Die Frau bei BA schien nicht wild darauf, mit ihm zu sprechen – vielleicht wegen der Prellungen oder der Schlinge oder seines allgemein verzweifelten Ausdrucks, es gab viele Gründe, nichts mit ihm zu tun haben zu wollen –, aber sie sagte, dass der nächste Flug von Dulles in einer Stunde landen würde. Er wartete darauf. Keine Tessa. Er wartete den ganzen Morgen, bis er aufgab, mit dem Heathrow Express nach Paddington fuhr und dann zu Fuß bis nach Covent Garden ging. Schließlich hatte er nichts anderes zu tun.
    Mit Reggies letztem Geld kaufte er eine Tüte Croissants. Er freute sich auf eine gute Tasse Kaffee aus seiner Industriemaschine. Er hatte keinen guten Kaffee mehr getrunken, seitdem er am Mittwochmorgen aufgebrochen war.
    Was er nicht bedacht hatte, was ihm jetzt vollkommen logisch erschien, war, dass Tessa mit einem früheren Flug gekommen war, vielleicht schon gestern, und sich keinen Reim darauf machen konnte, dass er nicht zu Hause war. Er redete sich diese Sichtweise so sehr ein, dass er optimistisch pfiff, als er die Treppe zu ihrem kleinen Horst hinaufstieg (»Liebesnest« hatte er es einmal genannt, und sie hatte laut herausgelacht über seine Sentimentalität oder das Klischee, er wusste es nicht).
    Er klopfte laut an die Tür. Er hatte natürlich keinen Schlüssel, aber seine Frau war zu Hause, wozu brauchte er einen Schlüssel? Sie schlief ihren Jetlag aus. Sie schlief tief und fest. Oder sie war kurz weggegangen, um eine Tüte mit Croissants zu kaufen. Frischen Kaffee für ihren Geliebten, mit dem sie ihn in ihrem Nest der Liebe überraschen würde. Unserer Häuser Balken sind aus Zedern, unser Getäfel Zypressen.
    Verdammt noch mal, wo war sie?
    Ohne dass der Nachbar, der unter ihnen wohnte, etwas davon wusste, bewahrte Jackson einen Ersatzschlüssel auf seinem Türsturz auf. Ein Dieb mochte dort nach einem Schlüssel suchen, aber er begriff wahrscheinlich nicht, dass er für eine andere Tür war. Im Allgemeinen waren Diebe opportunistisch und dumm. Er dachte an den Schlüssel für den Prius hinter der Dose Umwölkte Perle. In einem anderen Leben wäre es ein guter Name für Joanna Hunter gewesen. Ein unerforschliches chinesisches Leben. Sie sagte, dass sie die beiden Männer, die sie in dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher