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Landleben

Landleben

Titel: Landleben
Autoren: John Updike
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jünger als er
    und hat noch sexuelle Bedürfnisse; kaum eine Nacht ver-
    geht, in der sie sein Einschlafen nicht mit einer Umarmung
    oder einer forschenden Liebkosung unterbricht. Doch er,
    der schon immer großes Vertrauen in die gesundheitsför-
    dernde Wirkung des Schlafs hatte, klammert sich unritter-
    lich an das sich nähernde Vergessen. Dass das Vergessen

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    ihn bald für immer umfangen könnte, schreckt ihn nicht.
    Sein Herz schlägt noch, seine Prostata ist noch unversehrt,
    nur seine Aufnahmefähigkeit für Julias Signale ist vermin-
    dert. Dennoch empfindet er ihre enttäuschte Aufmerksam-
    keit als wohltuend und tröstlich, und jeden Abend, wenn
    er im Bett liegt und das Buch in den Händen schwerer wird
    und immer weniger Sinn ergibt, hofft er, Besseres zu leis-
    ten. Manchmal gelingt es ihm, dann sind beide von Dank-
    barkeit erfüllt. Wie reizend sie ist, nackt im Dunkeln! Wie
    wenig verdienen Männer doch die Schönheit und as
    d
    Er-
    barmen der Frauen!
    Erst kürzlich hatte er einen Traum, in dem er in einem
    Klassenzimmer war und von der Lehrerin beauftragt wur-
    de, Barbara Emerich einen Bleistift oder ein Schulbuch zu
    bringen. Das Mädchen saß auf einem dieser Stühle aus gel-
    ber Eiche mit einer verbreiterten Armlehne, auf der man
    schreiben konnte. Als er ihr gehorsam den Bleistift oder
    das Buch überbrachte, reagierte sie, indem sie noch mehr
    in sich zusammenkroch und regungslos dasaß, sodass er
    näher herangehen musste und aus dem schattigen Bereich
    zwischen ihrem Schoß und ihrem gesenkten Gesicht spür-
    te, dass sie bereit war, sich von ihm küssen zu lassen. Sie
    erwartete es, zeigte die Erwartung aber nur, indem sie ihre
    störrische Regungslosigkeit aufrechterhielt; ihr Mund blieb
    fest verschlossen über ihrem sonnigen Lächeln, mit dem
    einzelnen grauen Zahn. Barbara Emerich, das weiß er zu-
    fällig, ist inzwischen krankhaft fett und kommt humpelnd,
    mit einem Gehstock, zu Klassentreffen, und ihr hübscher
    grauer Zahn ist schon seit langem durch eine nicht über-
    zeugende elfenbeinweiße Brücke ersetzt worden; doch in
    seinem Traum war sie immer noch geschmeidig, in ihrem
    schlichten, mit blassen Blumen bedruckten Baumwoll-

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    kleid, das vorn geknöpft wurde, ein Kleid, wie es die Mäd-
    chen in den dreißiger Jahren in der Grundschule trugen. Sie
    trug ein Mädchenkleid, war aber eine reife Frau mit langen
    weißen Beinen und einem weichen Bauch und konnte wie
    eine Erwachsene still sitzen und abwarten. Die Fläche zwi-
    schen ihren Brüsten und ihrem Schoß lag im Schatten an-
    gespannter Erwartung; dorthin, in diesen Tümpel, wollte
    er sehnsüchtig sein Gesicht legen, dort wollte er von war-
    men Lippen begrüßt werden. Er erwacht und weiß – seine
    Erektion beweist es –, dass er sexuell noch lebendig ist,
    auch wenn Sex mit Julia im Wettstreit mit seinem senilen
    Schlafbedürfnis liegt.
    Der Traum von Barbara Emerich hat ihm wieder die
    Aura, das Klima von Frauen nahe gebracht, die Wolke, die
    ihre Gegenwart umgibt, wenn man neben einer von ihnen
    auf der Straße geht, Hüfte an Hüfte, das lange Haar und
    der Rock Symbole des grundlegenden Unterschieds, der
    zwar von Kleidern und Feigenblättern verborgen wird,
    aber dennoch an einem Reichtum äußerer Zeichen sicht-
    bar wird, so an der feineren Beschaffenheit der Haut und
    der helleren, schnelleren Stimme. Am MIT, als sie noch
    Studenten und unverheiratet waren, beschlossen er und
    Phyllis gelegentlich, wenn sie des Lernens im gleichen
    Moment überdrüssig waren, abends ins Kino zu gehen,
    am Central Square oder in der Washington Street in Bos-
    ton, wohin sie mit dem «T»-Zug fuhren, und auch darin
    war Sex, in dieser spontanen gemeinsamen Flucht in den
    Eskapismus, einem Versuch, die Verständigung, die ihre
    Genitalien schüchtern suchten, auf die Kleinstadt mit den
    allseits zugänglichen Vergnügungsstätten und dem Stra-
    ßenleben auszudehnen: Damals hatte er Phyllis geliebt,
    die Atmosphäre ihres Fließens neben sich auf dem Geh-

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    weg, eilend, damit sie nicht zu spät kamen, und ihr ein-
    mütiges Schweigen, wenn sie die Hand in die gemeinsa-
    me Popcorn-Tüte tauchte – obwohl Popcorn damals noch
    keine so große Rolle spielte und die Kinos auf solche
    Konzessionseinkünfte nicht in dem Maße angewiesen wa-
    ren – und ihr aufmerksames Gesicht von dem elektrischen
    Flackern lecken ließ, als wären es lauter Kurzschlüsse, von
    Filmen wie Die Meuterei auf der Caine oder Sieben
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