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Land aus Glas

Land aus Glas

Titel: Land aus Glas
Autoren: Alessandro Baricco
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saß vor ihm am Tisch. Er hatte den Brief von Jobbard und die Zeitungen aus der Hauptstadt ordentlich nebeneinandergelegt. Er sah sie an und versuchte, zwischen beidem einen halbwegs vernünftigen Zusammenhang herzustellen.
    »Schweinereien«, antwortete er.
    »Was sind Schweinereien?«
    »Das sind Sachen, die man in seinem Leben nicht tun sollte.«
    »Gibt es viele davon?«
    »Das kommt drauf an. Wenn einer viel Phantasie hat, kann er viele Schweinereien machen. Wenn er dämlich ist, verbringt er womöglich sein ganzes Leben, ohne daß ihm auch nur eine einzige einfällt.«
    Die Sache wurde kompliziert. Pekisch merkte es. Er nahm seine Brille ab und ließ Jobbard, die Rohre und den ganzen Krempel sausen.
    »Sagen wir mal so: Einer steht morgens auf, tut, was er tun muß, und geht abends schlafen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder er ist mit sich im reinen und schläft ein, oder er ist nicht mit sich im reinen, und dann schläft er nicht. Verstehst du?«
    »Ja.«
    »Man muß also mit sich im reinen bis zum Abend kommen. Das ist das Problem. Und es gibt einen ganz einfachen Weg, das zu schaffen: sauber bleiben.«
    »Sauber?«
    »Innerlich sauber, das heißt nichts getan zu haben, wofür man sich schämen müßte. Und bis dahin ist das alles noch gar nicht kompliziert.«
    »Nein.«
    »Kompliziert wird es erst, wenn einer merkt, daß er einen Wunsch hat, für den er sich schämt. Er hat irrsinnig Lust, etwas zu tun, was man nicht tun darf oder was schrecklich ist oder was jemandem weh tut. Alles klar?«
    »Alles klar.«
    »Dann fragt er sich nämlich: Soll ich diesem Wunsch nachgeben, oder soll ich ihn mir aus dem Kopf schlagen?«
    »Tja.«
    »Tja. Er denkt darüber nach, und dann entscheidet er sich. Hundertmal schlägt er ihn sich aus dem Kopf, doch dann kommt der Tag, an dem er ihm nachgibt, und er beschließt, das zu tun, worauf er solche Lust hat. Und er tut es. Und schon ist die Schweinerei perfekt.«
    »Aber er sollte sie doch nicht machen, die Schweinerei, oder?«
    »Nein. Doch aufgepaßt: In Anbetracht der Tatsache, daß wir keine Socken, sondern Menschen sind, sind wir nicht hauptsächlich dazu da, sauber zu sein. Wünsche sind das Wichtigste, das wir haben, und gerade deshalb kann man sie nicht an der Nase herumführen. Darum lohnt es sich hin und wieder, nicht zu schlafen und lieber hinter einem Wunsch her zu sein. Man macht eine Schweinerei, und dann büßt man dafür. Und nur das zählt wirklich: Daß einer, wenn es an der Zeit ist, dafür zu büßen, nicht auf die Idee kommt abzuhauen, sondern mit Anstand dableibt und dafür büßt. Nur das ist wichtig.«
    Pehnt dachte eine Weile nach.
    »Wie oft kann man denn welche machen?«
    »Was?«
    »Schweinereien.«
    »Nicht allzuoft, wenn man ab und zu auch schlafen will.«
    »Zehnmal?«
    »Vielleicht nicht ganz so oft. Wenn es richtige Schweinereien sind, nicht so oft.«
    »Fünfmal?«
    »Sagen wir zweimal … die eine oder andere passiert dann sowieso noch außerdem …«
    »Zwei?«
    »Zwei.«
    Pehnt kletterte vom Stuhl. Er lief eine Weile im Zimmer auf und ab, wobei er Gedanken und Satzfetzen wälzte. Dann öffnete er die Tür, ging hinaus auf die Veranda und setzte sich auf die Stufen am Eingang. Er zog ein violettes Heftchen aus seiner Jackentasche, ein abgewetztes, zerknittertes, doch für sein Teil durchaus respektables. Er schlug mit größter Sorgfalt die erste weiße Seite auf. Er nahm einen Bleistiftstummel aus seiner Brusttasche und rief ins Haus hinein: »Was kommt nach zwei sieben neun?«
    Pekisch saß über die Zeitung gebeugt. Er hob nicht einmal den Kopf.
    »Zwei acht null.«
    »Danke!«
    »Bitte.«
    Langsam und gewissenhaft begann Pehnt zu schreiben:
    280. Schweinereien – ein paar im Leben.
    Er dachte kurz nach. Und begann einen neuen Absatz.
    Später muß man für sie büßen.
    Er las es noch einmal durch. Alles in Ordnung. Er klappte das Heft zu und steckte es wieder in die Tasche.
    Ringsumher briet Quinnipak in der Mittagssonne.
    Das mit dem Heft ist eine Geschichte, die – wie aus dem Erzählten hervorgeht – zweihundertachtzig Tage zuvor begonnen hatte, das heißt an dem Tag, den Pehnt als seinen achten Geburtstag feierte. Rechtzeitig hatte der Junge damals schon vermutet, daß das Leben ein entsetzlicher Tumult war und man grundsätzlich gut daran tat, ihm im Zustand absoluter und radikaler Ahnungslosigkeit entgegenzutreten. Vor allem erschreckte ihn, nicht zu Unrecht, die Vielzahl der Dinge, die man lernen mußte, um die
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