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Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)

Titel: Küsschen, Küsschen!: Elf ungewöhnliche Geschichten (German Edition)
Autoren: Roald Dahl
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einer niedrigen Hecke begrenzt, führte drei- bis vierhundert Schritte am Waldrand entlang. Claud kroch auf allen vieren durch die Hecke, und ich folgte ihm.
    Im Wald war es kühl und dunkel. Kein Sonnenlicht fiel herein.
    «Das ist ja geradezu gespenstisch», sagte ich.
    «Psst!»
    Claud war ganz Auge und Ohr. Er ging dicht vor mir, hob die Füße sehr hoch und setzte sie vorsichtig auf den feuchten Boden. Sein Kopf war unaufhörlich in Bewegung; er ließ den Blick von einer Seite zur anderen wandern und hielt Umschau, ob irgendwo Gefahr drohte. Ich versuchte, das Gleiche zu tun, gab es jedoch bald auf, da ich hinter jedem Baum einen Wildhüter sah.
    Im Dach des Waldes tauchte nun ein großes Stück Himmel auf, und ich wusste, dass wir uns der Lichtung näherten. Claud hatte mir erzählt, die Lichtung sei die Stelle im Wald, wo die jungen Fasanen Anfang Juli ausgesetzt und dann von den Wildhütern gefüttert, getränkt und bewacht würden. Viele Vögel blieben aus Gewohnheit bis zum Beginn der Jagd dort.
    «In der Lichtung gibt es immer eine Menge Fasanen», hatte er gesagt.
    «Und auch Wildhüter, nehme ich an.»
    «Ja, aber ringsum ist Gebüsch, und das hilft.»
    Wir liefen in raschen, kurzen Sprüngen geduckt von Baum zu Baum, machten immer wieder halt, warteten, lauschten, rannten dann weiter und knieten schließlich im Schutze einer dichten Gruppe von Erlen unmittelbar am Rande der Lichtung. Claud grinste, knuffte mich in die Rippen und deutete durch die Zweige auf die Fasanen.
    Die Lichtung wimmelte von Vögeln. Es müssen mindestens zweihundert gewesen sein, die zwischen den Baumstümpfen herumstolzierten.
    «Da siehst du’s», flüsterte Claud.
    Der Anblick war überwältigend – eine Art Wirklichkeit gewordener Wilderertraum. Und wie nah sie waren! Einige standen kaum zehn Schritte von unserem Versteck entfernt. Die plumpen Hennen waren gelblich braun und so fett, dass ihre Brustfedern beinahe die Erde streiften. Die Hähne waren schön und geschmeidig, mit langen Schwänzen und leuchtend roten Ringen um die Augen, wie scharlachrote Brillen. Ich blickte Claud von der Seite an. Auf seinem breiten Gesicht lag ein Ausdruck höchster Verzückung. Mit leicht geöffnetem Mund starrte er aus glasigen Augen auf die Fasanen.
    Ich glaube, dass alle Wilderer ähnlich reagieren, wenn sie Wild sichten. Sie sind wie Frauen, die im Schaufenster eines Juweliers riesige Smaragde erspähen. Der Unterschied ist nur, dass Frauen weniger wählerisch in den Methoden sind, deren sie sich später bedienen, um den Schmuck zu erbeuten. Ein Wildererarsch ist nichts gegen die Qualen, die ein weibliches Wesen bereitwillig auf sich nimmt.
    «Aha», hörte ich Claud leise sagen, «da ist ja der Wildhüter.»
    «Wo?»
    «Drüben auf der anderen Seite, hinter dem dicken Baum. Sei vorsichtig.»
    «Mein Gott!»
    «Schon gut. Er kann uns nicht sehen.»
    Zusammengekauert beobachteten wir den Wildhüter. Der kleine Mann mit einer Mütze auf dem Kopf und einem Gewehr unter dem Arm stand unbeweglich. Er glich einem in die Erde gerammten Pfahl.
    «Komm, wir gehen», flüsterte ich.
    Das Gesicht des Mannes war von dem Mützenschirm beschattet, aber ich hatte den Eindruck, dass er zu uns herüberschaute.
    «Ich bleibe hier nicht», sagte ich.
    «Psst!», machte Claud.
    Langsam, ohne die Augen von dem Wildhüter abzuwenden, griff er in die Tasche und holte eine Rosine heraus. Er legte sie in die rechte Handfläche und schleuderte sie mit einem kleinen Schwung des Handgelenks durch die Luft. Ich sah sie über die Büsche fliegen und dicht hinter zwei Hennen niederfallen, die neben einem alten Baumstumpf standen. Beide Vögel drehten sich rasch um, als die Rosine aufprallte. Die eine Henne hüpfte hin und pickte etwas auf, was zweifellos die Rosine war.
    Ich behielt den Wildhüter im Auge. Er hatte sich nicht gerührt.
    Claud warf eine zweite Rosine auf die Lichtung, dann eine dritte, eine vierte und eine fünfte.
    In diesem Moment wandte der Wildhüter den Kopf, um in den Wald hinter sich zu blicken.
    Blitzschnell zog Claud die Papiertüte aus der Tasche und schüttete einen Haufen Rosinen in die rechte Hand.
    «Lass das», sagte ich.
    Aber schon hatte er mit einer weit ausholenden Armbewegung die ganze Handvoll hoch über die Büsche auf die Lichtung geworfen.
    Wie Regentropfen auf trockenes Laub fielen die Rosinen mit einem leisen, weichen Klatschen zu Boden, und jeder Fasan auf der Lichtung musste sie entweder gesehen oder gehört haben. Die
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