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Kuehles Grab

Titel: Kuehles Grab
Autoren: Lisa Gardner
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fand ich das geliebte Sofa meiner Mutter, mein Baby-Album, komplett mit Geburtsurkunde, verschiedene Familienstücke und eine Nachricht von meinem Vater. Dem Datum nach muss er sie eine Woche nach unserer Rückkehr nach Boston geschrieben haben, als ich noch glaubte, seine Angst wäre aus der Luft gegriffen. Mein Vater schrieb am 18. Juni 1993: Was immer auch geschieht, Du sollst wissen, dass ich Dich immer geliebt habe und nur das Beste wollte.
    Hat er damit gerechnet, dass er in Boston sterben würde? Glaubte er, dass die Rückkehr zu dem Ort der Tragödie seinen Niedergang besiegelte? Ich weiß es nicht. Ich vermute, er wusste, dass sein Bruder den Schuss überlebt hatte. Ganz bestimmt hat mein Vater in den Zeitungen nach Berichten über eine unbekannte Leiche gesucht, die in einem verlassenen Haus in Arlington aufgefunden worden war. Wahrscheinlich war ihm, als er nichts fand, klar, dass seine Mission nicht geglückt war. Warum ging er nicht zurück, um es noch einmal zu versuchen? Wieso fuhr er nach Florida zu meiner Mutter und mir?
    Ich werde es nie erfahren.
    Wahrscheinlich ist das Töten doch nicht so leicht. Mein Vater hat es einmal versucht, und das genügte ihm. Danach flüchteten wir immer wieder. Jedes Mal, wenn ein Kind verschwand und in den Zeitungen darüber zu lesen war, war es wieder so weit. Mein Vater besorgte uns neue Identitäten, meine Mutter packte die Koffer, und wir machten uns auf den Weg.
    Ironischerweise glaubt die Polizei, dass Onkel Tommy uns nie folgte. Die Kugel hat ihn zwar nicht getötet, aber der Hirnschaden, den sie verursachte, schien die meisten seiner psychotischen Impulse stark beeinträchtigt zu haben. Er nahm den Job bei UPS an. Er wurde zu einem mustergültigen, wenn auch asozialen Bürger. Er führte sein eigenes Leben.
    Nur meine Familie war zu tief in der Vergangenheit verwurzelt und ständig auf dem Sprung und suchte immer nach einer Sicherheit, die mein Vater nicht finden konnte.
    Viertens: Einige Wahrheiten sind nicht dafür gemacht, erzählt zu werden. Die Polizei etwa stufte den Tod meines Onkels nach etlichen Untersuchungen als Unfall ein. Bei einer bewaffneten Konfrontation mit einem Gesetzeshüter wurde der Verdächtige viermal durch Schüsse aus einer Dienstwaffe getroffen, die durch eine geschlossene Tür abgefeuert worden waren. Anschließend gelang es dem Officer, die Tür zu öffnen, und der Verdächtige stürmte aus der Wohnung, um zu fliehen. In seiner Verwirrung stürzte er über das Treppengeländer im vierten Stock und starb.
    Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass Bobby und ich dieses Thema nicht weiter erörterten. D. D. konnte nicht viel darüber sagen, denn sie stand in der Lobby, als mein Onkel auf dem Boden aufschlug, und konnte nicht gesehen haben, was sich in meiner Wohnung und vor der Tür abgespielt hatte.
    Allerdings schenkte sie mir vor zwei Wochen ein T-Shirt mit der Aufschrift: »Unfälle passieren.«
    Fünftens: Selbst Psychopathen haben einen Sinn für Gemeinschaft. Charlie Marvin war, wie sich herausstellte, ein ehemaliger Patient des Boston State Mental – sein echter Name lautete: Christopher Eola. Die Bostoner Polizei geht mittlerweile davon aus, dass er mindestens ein Dutzend Prostituierte ermordet hat, während er sich nach außen hin als selbstloser Anwalt und Fürsprecher der Obdachlosen ausgab. Zuletzt war er allerdings ziemlich dreist, indem er die leitende Ermittlerin Sergeant D. D. Warren zu seinem neuen Opfer auserkor. Ein Graphologe bestätigte, dass die Nachricht, die unter D. D.s Scheibenwischer geklemmt hatte, mit großer Wahrscheinlichkeit von Charlie Marvin geschrieben worden war. Die vier Hunde, die auf dem Gelände des Boston State Mental erschossen worden waren, trugen Mikrochips, durch die man die Züchter – einen Drogendealer und einen Hundetrainer – ermitteln konnte. Beide sagten aus, dass ein freundlicher älterer Herr die Hunde gekauft hatte.
    Meine Vermutung ist: Charlie Marvin hat sich in die Ermittlungen gedrängt, um herauszufinden, wer der Herr des von ihm so bewunderten Massengrabes war, weil er Kontakt zu ihm aufnehmen wollte. Irgendwann verliebte er sich in D. D. und begann ein eigenes Spiel. Die Polizei fand in Charlie Marvins Apartment Sprengstoff und andere Materialien, die man braucht, um Bomben zu basteln. Augenscheinlich hatte er weitere Verbrechen geplant.
    Eolas Eltern weigerten sich, den Leichnam des Sohnes zu beerdigen. Ich habe gehört, dass seine sterblichen Überreste in einem
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