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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel
Autoren: Sabine Bode
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Maßlosigkeit und ihrem Desinteresse an gesellschaftlicher Zukunftsgestaltung zu konfrontieren. Noch ahnte man nicht, dass die sechziger und siebziger Jahrgänge maßgeblich an einem folgenreichen gesellschaftlichen Phänomen beteiligt sein würden – der Kinderlosigkeit.
    Flüchtlingshintergrund
    Mein Buch »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« stieß bei den Kindern jener »vergessenen Generation«, also den Kindern der Kriegskinder – vor allem Angehörige der 1960er Jahrgänge – auf große Resonanz. Wie in der Leserpost, aber auch auf Veranstaltungen zum Thema deutlich wurde, stammten ihre Eltern, Angehörige der dreißiger und vierziger Jahrgänge, überwiegend aus Flüchtlingsfamilien. Die Kriegsenkel machten mir gegenüber deutlich, wie stark Mutter und Vater, ehemalige Flüchtlingskinder, durch Vertreibung und durch den Neubeginn in einer größtenteils feindseligen Umgebung Zeit ihres Lebens belastet blieben. Ich erfuhr von einem extremen Misstrauen, und dass sie nicht aufhörten, [21] sich über die Zukunft existentielle Sorgen zu machen, auch dann, wenn sie ein gutes Auskommen hatten und gegen jedes Missgeschick versichert waren. Die Familiengeschichten bestätigten den wissenschaftlichen Befund von Andreas Kossert in seinem Buch »Kalte Heimat« mit gelebtem Leben: Das Bild von der rundum geglückten Integration der Vertriebenen nach 1945 ist ein Mythos. 1 An den Spätfolgen haben nicht selten auch die Nachkommen jener 14 Millionen Deutsche zu tragen, die nach Kriegsende ohne Heimat waren.
    Auffallend oft hörte ich Kinder der Kriegskinder über sich sagen, ihnen fehle der feste Boden unter den Füßen. Dabei waren sie als Friedenskinder in den besten aller Zeiten aufgewachsen. Zumindest in Westdeutschland hatte es ihnen an nichts gefehlt. Oder doch? Es war für die meisten ein völlig neuer Gedanke, sich vorzustellen, ihr verunsichertes Lebensgefühl könnte von Eltern stammen, die sich nicht von ihren Kriegserlebnissen erholt hatten. War es möglich, dass eine Zeit, die nun schon über 60 Jahre zurücklag, so stark in ihr Leben als Nachgeborene hineinwirkte? Und wenn ja, warum wussten sie nichts davon?
    Sie konnten sich nicht mit dem Bild identifizieren, das in den Medien über die Generation 40 plus und die »Baby-Boomer« verbreitet wird. So ermittelte eine im Jahr 2008 von der Wochenzeitschrift »Stern« in Auftrag gegebene Forsa-Umfrage »eine zufriedene Generation«. In der Illustrierten wurde ausdrücklich darauf hingewiesen: »Jeder zweite sagt sogar: So gut ging es mir noch nie«. 2 Für diejenigen, die sich bei mir meldeten, galt das keineswegs.
    [22] Kein Mut zur Familiengründung
    Eine Frau schrieb mir: »Ich bin 40 Jahre alt und frage mich schon lange, warum ich so verunsichert durch die Welt laufe. Ich habe eine gute Ausbildung, traue mir aber nichts zu. Wenn ich mich bewerben soll, bekomme ich Panik.« Ein Mann gleichen Alters teilte mit, er sei zwar beruflich äußerst erfolgreich und auch risikobereit, habe aber nicht den Mut zur Familiengründung – seine beiden Geschwister auch nicht. Für seine Eltern werde es wohl keine Enkel geben. In beiden Fällen wurden die Kindheiten der Eltern skizziert. Sie deckten sich im Wesentlichen mit den Geschichten in meinem Kriegskinderbuch.
    Zunehmend melden sich heute Kriegsenkel zu Wort. In dem Theaterstück »Risiken und Nebenwirkungen« von Klaus Fehling, Jahrgang 1969, fand ich die Beziehung eines Kriegsenkels zu seiner Kriegskind-Mutter thematisiert. Tochter Sigrid kam nicht zu einem eigenen Leben, denn sie ließ sich von ihrer 70-jährigen Mutter Anni geradezu aussaugen. Als die Tochter sagte: »Sorgen macht sich Anni gern, aber immer nur um sich selbst«, kam aus dem Publikum ein zustimmendes Lachen. Hier saßen überwiegend die Kriegsenkel. Wie ich nach der Vorstellung im Osnabrücker Emma-Theater von den Schauspielerinnen erfuhr, handelt es sich um ein Stück mit hohem Wiedererkennungswert. Mutter Anni sorgt sich nicht um andere, sie eignet sich, wie ihre Tochter weiß, nur deren Missgeschicke an.
    Sigrid:
    Mir hat einer mein Handy geklaut.
    So ein Rudel Rumänenkinder.
    Im Café. Vom Tisch im Vorbeigehen.
    Die können echt schnell laufen.
    Sie ist fünf Tage nicht vor die Tür gegangen,
    nachdem ich ihr davon erzählt hatte.
    Und natürlich kein Auge zu. Wie immer.
    [23] Literaten entwickeln häufig ein Gespür für unverarbeitete kollektive Katastrophen und ihren Niederschlag in den nachfolgenden
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