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Kriegsenkel

Kriegsenkel

Titel: Kriegsenkel
Autoren: Sabine Bode
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Generationen. Dass schwere Schuld an die Nachkommen weitergegeben wird, davon kann man in der Bibel lesen. Auf Grund der Ergebnisse der Traumaforschung und der Holocaustforschung wird der Generationentransfer in der Fachwelt nicht länger bestritten. Von einem »Trauma« wird bei den Nachkommen nicht mehr gesprochen, allenfalls von einem »sekundären Trauma«, wohl aber von »Menschen mit Bindungsstörungen«, oder abgeschwächt von solchen, die, wie es in der Fachliteratur heißt, »unsicher gebunden sind.« Der Hintergrund: Eltern konnten ihren Kindern in den frühen und damit entscheidenden Jahren nicht ausreichend Halt geben und nur wenig Vertrauen ins Leben vermitteln.
    Es gab eine Zeit, in der nicht nur Eltern sondern auch Ärzte glaubten, kleine Kinder seien äußerst robust, fast schmerzunempfindlich, und sie würden selbst von den größten Schrecken ringsherum nichts mitbekommen. Als Beweis wurde stets der »selige Schlaf« der Kleinen angeführt. Man war davon überzeugt, sie besäßen noch keinerlei Antennen für die Gemütsverfassung der sie umgebenden Erwachsenen, und lobte die beruhigende Wirkung von Babys in Zeiten des Schreckens.
    Das Gegenteil ist richtig. Kinder sind äußerst feinfühlig. Sie spüren selbst jenes Grauen, das ihre Eltern tief in sich vergraben und deshalb nicht mehr in ihrem Bewusstsein haben.
    Der Bindungsforscher und Kinder- und Jugendpsychiater Karl Heinz Brisch macht deutlich: »Klassischerweise werden eigene, unverarbeitete Erlebnisse der Eltern in der Interaktion mit dem Säugling wieder lebendig – geradezu wie Gespenster aus der Vergangenheit.« 3
    Waren Mutter und Vater in ihrem eigenen Lebensgefühl und in ihrer Identität verunsichert, konnten sie ihren Kindern wenig Orientierung geben. Die Kriegsenkel berichteten mir von relativ normalen Familienverhältnissen. Ihre Eltern waren [24] keine Unmenschen gewesen. Es wurde nur übereinstimmend gesagt: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen.«
    Die Kriegsenkel melden sich zu Wort
    Hier und da wird in den Medien über »Kinder der Kriegskinder« berichtet. Man weiß noch wenig. Man tastet sich vor. Auch in der Forschung wächst das Interesse am Thema; entsprechende Untersuchungsergebnisse werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Bei meinen Gesprächen mit Kriegsenkeln über sechs Jahre faszinierte mich, wie sich in ihren Darstellungen Familiengeschichte mit Zeitgeschichte verknüpfte – vor allem mit deutscher Nachkriegsgeschichte bis hin zur Gegenwart. Anfangs ging ich von einem Buchprojekt aus, in dem nicht mehr als zehn Menschen zu Wort kommen würden. Während meiner Arbeit am Manuskript zeigte sich aber, dass die von mir gewünschte Überschaubarkeit der Komplexität und der Vielfalt nicht gerecht geworden wäre, die ich bei meinen Begegnungen mit den Kindern der Kriegskinder vorgefunden habe.
    Ich habe schließlich 18 Geschichten ausgewählt, die sich gegenseitig kommentieren und ergänzen. Sie machen deutlich: Den Kriegsenkel gibt es nicht, genauso wenig wie das Kriegskind. Gerade die Verschiedenartigkeit der Erfahrungen neben den unübersehbaren Übereinstimmungen verstärkt meiner Meinung nach die Glaubwürdigkeit der Aussagen. In vielen Fällen brachte die Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte verblüffende Ergebnisse. Überwiegend werden Schwierigkeiten und Unverständnis zwischen den Generationen geschildert. Damit möchte ich nicht behaupten, die Beziehungen zwischen den Kriegskindern und den Kriegsenkeln seien grundsätzlich spannungsreich. Aber mit Sachbüchern verhält es sich genauso wie mit Romanen und Filmdrehbüchern: Es macht keinen Sinn, über gesunde Familien zu schreiben. Mein Anliegen ist es, auf [25] die Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg in vielen deutschen Familien aufmerksam zu machen.
    Aber was mache ich hier? Erfinde ich gerade ein gesellschaftliches Thema, das in Wahrheit nur wenige Einzelfälle betrifft? Richtig ist, ich kenne keine Prozentzahlen – sie wären aus der Luft gegriffen. Richtig ist aber auch: Es gab eine Zeit in Deutschland, die erst vor wenigen Jahren zu Ende ging, in der nicht einmal die Angehörigen der Kriegskinderjahrgänge – in etwa von 1930 bis 1945 – der Meinung waren, sie als Generation hätten ein besonderes Schicksal. Der Satz »Ich bin ein Kriegskind« fiel selten, und noch seltener sprach ihn jemand völlig unbefangen aus. Das wirklich Neue an der Thematik »Kriegskinder« sind nicht die Schrecken des Krieges. Es ist bekannt, dass
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