Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
entlangblicke. Sollte sich dort draußen tatsächlich ein Monster herumtreiben, dann will ich es auch sehen.Aber ich sehe nichts als den gewohnten zugewachsenen Garten. Nichts bewegt sich, kein Geräusch ist zu hören. In gewisser Weise ist es tatsächlich ein wenig unheimlich, denn normalerweise ist es nicht so ruhig. Im Gegenteil. Nicht einmal das viel zu lange Gras vor der Terrasse bewegt sich. Es ist windstill und Vollmond. Alles wirkt ein wenig unwirklich, als wäre es mit einem feinen Pinsel auf einen Bühnenhintergrund gemalt. Am liebsten würde ich diesen Anblick ausschneiden und für meine Collage verwenden.
    Jacob hebt wieder seinen Zeigefinger, jetzt richtet er ihn auf mich: »Wer ist das, Emilie? Was will er?«
    Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht. Und ich habe auch keine Lust, in seine Albträume hineingezogen zu werden. Auch Mutter schaut mich jetzt so misstrauisch an.
    »Emilie, was habt ihr gemacht? Hast du ihm etwas vorgelesen? Irgendetwas Unheimliches?«
    Hab ich nicht. Ich werde so wütend, dass ich zu meiner Verteidigung nichts hervorbringe, weder habe ich ihm etwas vorgelesen noch eine Geschichte erzählt. Wir haben nur ein bisschen geplaudert und ein Lied gesungen, genauer gesagt, das Lied aus der Schatzinsel von den fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste und der halben Flasche Rum. Aber Jacob hat selbst darum gebeten. Danach habe ich ihm einen Gutenachtkuss gegeben und bin in mein Zimmer gegangen. Das ist also der Dank, wenn man ein bisschen nett ist.
    »Habe ich dir Geschichten vorgelesen, Jacob?«, frage ich ihn, aber er sieht mich nur an, ohne zu antworten, unglaublich. Ich packe ihn an der Schulter und schüttele seinen kleinen Körper: »Habe ich?«
    »Nein, aber du hast ein unheimliches Bild in deinem Zimmer.«
    Nun ist es heraus. Ohne zu fragen, hat er sich in mein Zimmer geschlichen, in meinen Sachen gewühlt und dabei die Collage gefunden. Mutter will sie sehen. Ich habe keine andere Wahl und muss sie holen, obwohl man ein Kunstwerk normalerweise nicht zeigt, bevor es wirklich vollendet ist. Als ich zurückkomme, reißt sie es mir geradezu aus den Händen.
    »Das haben wir in der Schule gelernt«, erkläre ich zu meiner Verteidigung. »Es soll mit Absicht unheimlich sein. Mein Lehrer meint, ich sei gut. Er nennt meinen Stil gothic .«
    Vor den Sommerferien hat mein Kunstlehrer mich tatsächlich gelobt. Das war zwar für eine andere Collage, deren Stil ist aber ähnlich gewesen. Allerdings bin ich kein Gothic-Typ, ich habe weder Piercings noch laufe ich in schwarzen Klamotten herum, daher war ich ein bisschen verwundert. Aber er hat betont, dass er nur mein Bild meint, es sollte ein Kompliment sein. Die Collage zeigte mich beim Besuch der Domkirche von Roskilde. Ich war in die Katakomben gesperrt und musste mit den toten Königen die Nacht verbringen. Und sie waren alles andere als friedlich und versuchten, mich in ihre Särge zu zerren. Ich kämpfte dagegen an. Eine sehr dramatische und stimmungsvolle Collage, wenn ich das selbst so sagen darf. Meine Klassenkameraden jedoch lachten. Das war nicht beabsichtigt, denn eigentlich sollte die Collage ja unheimlich sein. »Na ja, das Unheimliche ist dem Komischen oft sehr nah«, hatte mein Kunstlehrer mich getröstet. Aber es war zu spät, ich mochte das Bild nicht mehr. Und als die Ferien anfingen und ich mich zu langweilen begann, hatte ich Lust, mit einer neuen Collage zu beginnen. Im gleichen Stil, nur besser. Nun sieht Mutter sie sich an. Zumindest lacht sie nicht.
    »Hat das Bild einen Titel?«
    »Die Familie zieht aufs Land.«
    Sie nickt, will das Bild aber nicht kommentieren, solange Jacob dabei ist.
    »Ein schönes Bild«, meint sie und gibt es mir zurück. Sie lächelt, doch auf ihrer Stirn zeigen sich Runzeln. »Allerdings sollst du so etwas nicht herumliegen lassen, das weißt du doch.«
    Als ob es meine Schuld ist, dass mein kleiner Bruder ohne Erlaubnis in mein Zimmer geht und in meinen Sachen herumschnüffelt. Natürlich hätte ich die Collage besser verstecken können, aber er würde sie trotzdem finden.
    »Vor dem Fenster stand ein Mann aus Emilies Bild«, behauptet Jacob plötzlich.
    »Ein Mann aus meiner Collage? Wer?« Ich halte ihm das Bild hin und erwarte, dass er auf eine der Personen zeigt, vielleicht auf jemanden ohne Kopf. Doch seine Augen irren über das Blatt, ohne zu finden, was er sucht. Es hilft auch nicht, dass er das Bild umdreht und sich die Rückseite ansieht.
    »Er ist nicht mehr da«, erklärt er.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher