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Kopfloser Sommer - Roman

Kopfloser Sommer - Roman

Titel: Kopfloser Sommer - Roman
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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»Er ist in den Garten gegangen. Er hat am Fenster gestanden und reingeguckt.«
    Ich würde gern lachen, aber es bleibt mir im Hals stecken ‒ jetzt spinnt mein Bruder wirklich. Ich schaue meine Mutter an, irgendetwas muss sie doch zu ihm sagen. Doch sie denkt noch immer über meine Collage nach, tiefe Furchen ziehen sich jetzt über ihre Stirn. Offenbar macht sie sich Sorgen wegen des Motivs, allerdings ist das auch nicht überraschend. Erst gestern Abend hat Jacob von einer mittelalterlichen Burg mit kopflosen Bewohnern geträumt. Einige hatten auch Tierschädel. Jacob hat auch von einem Flugsaurier erzählt, der an einer Hängebrücke Wache hält und an irgendetwas nagt, allerdings wollte er mir nicht erzählen, woran. Alles war so seltsam, eigentlich hätte ich es jemandem erzählen müssen, aber es gibt hier ja niemanden. Ob ihr der Zusammenhang klar ist? Ich habe mich nicht zum ersten Mal durch Jacobs Albträume inspirieren lassen.
    »Von nun an verschließt du so etwas in einer Schublade«, sagt sie.
    Ich nicke. Wenn Jacob meine Collagen sieht, bekommt er Albträume. Albträume, die ich ihm entreiße und die mich zu neuen Bildern inspirieren, die dann bei ihm zu weiteren Albträumen führen, und so weiter, und so weiter ‒ es ist eine endlose Schraube.
    »Habe ich versucht, aber es passt nicht in die kleine Schublade. Mir wäre ein Schlüssel für mein Zimmer lieber, dann hätte ich wenigstens ein bisschen Privatsphäre.«
    Diese Diskussion haben wir schon häufiger geführt, aber Mutter ist zu keinerlei Kompromissen bereit. Sie hasst verschlossene Türen. Außerdem klopft sie immer an, wenn sie zu mir will, sagt sie und wendet sich an Jacob, das soll er doch bitte auch tun. Doch sein Bett ist leer. Ich habe gesehen, wie er aufgestanden ist, und vermute, dass er auf die Toilette gegangen ist.
    »Wann darf ich eigentlich zu Vater ziehen?« Ich bin ziemlich sicher, dass ich bei ihm mehr Raum für meine privaten Dinge hätte. Außerdem ist der Zeitpunkt für eine derartige Frage günstig, da Jacob uns nicht hören kann. Eine Antwort erhalte ich allerdings nicht, denn jetzt schreit Jacob schon wieder, nur kommt es diesmal aus dem Wohnzimmer. Es ist der gleiche unheimliche Schrei wie vorhin, abgesehen davon, dass es sich anhört, als halte er etwas vor den Mund, um sich selbst zu dämpfen. Vielleicht sind es nur seine Hände, allerdings klingt der Schrei dadurch noch unheimlicher. Wer soll ihn denn nicht hören dürfen?
    Mutter und ich laufen ins Wohnzimmer. Jacob steht am Fenster und zeigt in den Garten. Als wir uns neben ihn stellen und ebenfalls hinausschauen, sehen wir nichts.
    »Wo?«, flüstert Mutter.
    Aber Jacob zeigt nur nach draußen. Ich gehe auf die Terrasse. Ich möchte das Monster sehen, aber es gibt nichts zu sehen. Doch ich meine, hinter der großen Weide etwas gehört zu haben. Einen tiefen, klagenden Laut, der mich an ein verwundetes Tier erinnert. Die Äste des Gebüschs, das neben der Weide wächst, bewegen sich, obwohl es windstill ist. Irgendetwas muss dort sein. In diesem Moment schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und ich kann nichts mehr erkennen.
    Ich winke Mutter zu mir heraus, ich mag nicht allein auf der Terrasse stehen. Sie ist nicht sonderlich begeistert, kommt aber schließlich zu mir. Jacob bleibt an der Tür.
    »Hör mal!«, flüstere ich.
    Wir horchen, aber es ist still. Mutter hat schnell eine Erklärung: »Die Geräusche des Gartens sind einfach neu für uns, darüber haben wir doch gesprochen, erinnert ihr euch? Wir wohnen hier noch nicht lange genug und sind aus der Stadt ganz andere Geräusche gewohnt.«
    Jacob fällt nicht darauf herein. »Ich habe ihn gesehen! Das stimmt! Wollen wir nicht Papa anrufen?«
    Mutter atmet tief durch. Wenn sie etwas vollkommen aus der Fassung bringen kann, dann der Wunsch, Vater anzurufen. Und sie erklärt uns einmal mehr: »Vater ist in der Stadt, er wohnt jetzt woanders. Es dauert nicht mehr lange, bis ihr ihn wiederseht.«
    »Dann ist es zu spät, Mama. Er soll jetzt kommen.«
    Mutter nimmt Jacob auf den Arm. Eigentlich ist er zu groß, um noch getragen zu werden, aber sie macht es trotzdem. Er legt ihr die Arme um den Hals, und sie blickt ihm eindringlich in die Augen.
    »Er kann nicht, Jacob, und das weißt du ganz genau. Du wirst sehen, das war nur ein Vogel oder eine Katze. Kommt, lasst uns hineingehen.«
    Doch dann ist dieses Geräusch wieder zu hören, ein stoßweises Klagen. Deutlicher als zuvor, auch Mutter hört es. Dort unten im
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