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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei
Autoren: J.R. Moehringer
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kannst du weder lesen noch schreiben?
    Ein Stück weiter vorn ist die Prospect Avenue. Er biegt nach links ab. Jetzt liest er laut: Nach Hamilton Ausschau halten.
    Da. Hamilton.
    Er kneift wieder die Augen zusammen, um Donalds Handschrift zu entziffern. Noch eine Weile? Nein. Wahrscheinlich noch eine Meile. Dann Hicks Street. Dann: Ausschau halten nach – Middagh.
    Klingt wie ein Wort aus der alten Heimat. Vielleicht ein gutes Zeichen.
    Die Windschutzscheibe ist beschlagen. Willie wischt sie mit Schreibers Trenchcoat sauber, beugt sich vor und versucht die Hausnummern zu erkennen. Er sieht ein altes, schmutzig weißes Haus, dann ein knallgelbes, das aussieht, als wäre es das erste in Brooklyn erbaute. Funck sagte mal, dass Brooklyn auf Niederländisch kaputtes Land heißt. In der Tat. Funck – lange tot. Blumendünger. Restlos verlandwirtschaftet.
    Jetzt. Da. Sutton sieht Middagh. Er biegt ab, entdeckt ein uriges altes Haus im Kolonialstil und an der Tür die von Donald angegebene Nummer.
    In den Fenstern schimmert buttergelbes Licht.
    Er parkt einen Block weiter, unter einem Schild: ABSOLUTES HALTEVERBOT . Er lässt den Motor laufen und geht langsam zum Haus zurück. Bleibt auf dem vereisten Gehsteig davor stehen. Hinkt die Treppe hoch. Ballt eine Faust, um zu klopfen. Hält inne. Hinkt die Treppe nach unten und zurück zum Polara. Bleibt stehen. Geht die Straße wieder zurück. Schleicht zu den Fenstern, wie früher bei den Banken. Zwanzig Leute, gut gekleidet, versammelt um einen Stützflügel. Da versteht sich jemand aufs Klavierspielen.
    Langsam hinkt er zurück in Richtung Polara.
    Hinter ihm wird eine Tür geöffnet, ein Türklopfer klappert. Kann ich Ihnen helfen?
    Er fährt herum. Eine junge Frau. Achtzehn, vielleicht neunzehn. Mit einem Männermantel um die Schultern steht sie auf der obersten Stufe. Im düsteren Licht einer Wandleuchte kann Sutton ihre Gesichtszüge nicht erkennen, aber er sieht, dass sie aschblondes Haar hat – und blaue Augen?
    Oh, sagt er. Ich suche nach einer alten Freundin. Hier wohnt nicht zufällig die Familie Endner?
    Endner?
    Oder vielleicht Richmond?
    Richmond, wiederholt sie. Haben Sie Richmond gesagt?
    Ach nein. Hab mich wohl geirrt. Tut mir leid, dass ich Sie gestört habe.
    Suchen Sie nach Sarah Richmond?
    Sarah? Hm. Ja. Sarah. Sieht so aus.
    Tut mir leid. Sie ist gestorben. Vor drei Jahren.
    Gestorben. Verstehe.
    Sie war meine Großmutter.
    Ihre Groß – natürlich.
    Sind Sie etwa – Willie Sutton?
    Wie kommen Sie darauf?
    Sie sind ständig im Fernsehen.
    Stimmt. Klar.
    Und ich kenne die Geschichten. Von meiner Großmutter. Und meiner Mutter. Familienlegende.
    Legende.
    Eine Schwere überkommt Sutton, eine derart niederschmetternde Enttäuschung, dass er sich am liebsten auf den eisigen Gehweg legen würde.
    Tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe, junge Frau. Es war nur ein Versuch. Hätte ja sein können.
    Wie um alles in der Welt haben Sie diese Adresse gefunden?
    Über einen Freund. Der Freunde hat. Bei der Kraftfahrzeugbehörde. Wählerregistrierung. Zeitungsabonnements. Heutzutage kann man jeden ausfindig machen. Gehörte das Haus Ihrer Großmutter?
    Sie hat es vor Jahren gekauft. Mit ihrem zweiten Mann.
    Ihrem zweiten.
    Wir sind gerade beim Weihnachtsessen.
    Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe. Ich wollte vorher anrufen, konnte aber kein Münztelefon finden.
    Sie stören nicht. Möchten Sie vielleicht auf ein Glas Wein hereinkommen?
    Nein. Danke. Ich möchte keine Umstände machen.
    Sie machen keine Umstände. Ich bin übrigens Kate.
    Kate. Ich bin – aber Sie wissen ja, wer ich bin.
    Ja. Ist mir ein Vergnügen. Ein echter Trip.
    Trip. Klar. Scheint das Wort des Tages zu sein. Er tritt zögernd auf sie zu. Es war so ein weiter Weg, sagt er.
    Er ist wütend auf sich selbst – wie kann er nur so etwas Bescheuertes sagen. Ich bin erledigt. Sein Bein gibt beinahe nach. Er packt es. Der Schmerz schnürt ihm die Luft ab. Dieser Shit von Knipser hat den Schmerz für eine Weile vertrieben, aber jetzt ist er wieder da. Noch schlimmer ist die Müdigkeit. Die vielen Jahre auf einer Pritsche, in einer Zelle, angefüllt mit Nichtstun – eigentlich sollte er ausgeruht sein. Stattdessen fühlt er sich erschöpft wie ein Hilfsarbeiter, ein Sportler, ein Soldat. Dann fällt ihm ein: Heute wird er sterben. Vielleicht ist es jetzt so weit.
    Entschuldigen Sie, Kindchen, sagt er. Ich wollte nicht so dramatisch sein. Aber es gibt so vieles, wovon ich immer
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