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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse
Autoren: Franz Werfel
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begann und die Hasenburg mit dem freieren Blick auf die Stadt, Türme und Kuppeln zurücksehnte. Ferner war der Konzipist im Gegensatz zum schönen Zelnik ein kleiner Mann mit verknifenem Nußknackergesicht, das von einer uneingefaßten Brille in zwei symmetrisch blitzende Hälften geteilt wurde, die trotz oder gerade wegen ihres Funkelns augenlos zu sein schienen. Die Genauigkeit dieses Gesichtes mißfel Hugo. Ebenso mißfelen ihm gewisse Einzelheiten an Tittels Kleidung, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gab. Aber als Kind seiner Eltern beleidigte ihn alles Armselig-Praktische und Peinlich-Geschonte. Tittel bekleidete seinen abgetragenen Hals mit einem Zelluloidkragen, und um seine behaart ausgemergelten Handgelenke gewahrte man Manschettenschützer. Er trug auch bei trockenem Wetter Galoschen und zeigte sich bei jeder Gelegenheit um seinen Gesundheitszustand besorgt. Was die Hygiene anbelangt, besaß er einen reichlichen Vorrat goldener Worte, die er Erna nicht vorenthielt: »Der Schlaf vor Mitternacht ist der beste.« »Wer sich früh erhebt, ein hohes Alter erlebt.« »Ruhe vor Tisch, nach der Mahlzeit mache Bewegung.« »Liebe die Sonne, aber hüte dich vor ihr.« »Vermische Essen und Trinken nicht!« In seinen Gesprächen mit Erna medizinierte er, was es nur anging, ja es schien sogar, wenn sie irgendwelche ›Zustände‹ eingestand, daß sein halbiertes Brillenantlitz leidenschaftlich und fast zärtlich wurde. »Allgemeine Anämie«, stellte er fest, und seine Stimme streichelte dieses Wort wie seine pulsfühlende Hand Ernas Gelenk streichelte. Rechts und links in seinen Westentaschen steckten zwei Dosen, die er öfters hervorzog. In der einen war Speisesoda in Pastillenform, in der andern lagen schwarze Lakritzenbonbons. Die Pastillen nahm er selber ein, von den Lakritzen bot er auch Erna an, während Hugo übergangen wurde. Oft auch holte er seine Uhr aus der Tasche, ein ziemlich großes goldenes Ding, das erst einem rehledernen Säckchen entnommen werden mußte. Ohne irgendwelchen Anlaß verlor sich dann Tittel schweigend in die Betrachtung der unerbittlichen Zeit, die sich nicht minder pedantisch betrug als er selbst. Nahte der Sonntag und mit ihm die Möglichkeit eines Ausfugs, den der Konzipist gemeinsam mit Erna zu unternehmen gedachte, so begann das zerlesene Kursbuch eine bedeutende Rolle zu spielen. Es war Tittels Lieblingswerk, das Epos seiner unerfüllbaren Sehnsucht, der Abenteuerroman seiner versäumten Romantik, denn alle Strecken Europas standen darin verzeichnet. Der Besitz dieser weltumfassenden Druckschrift reihte ihren Eigentümer gewissermaßen unter die erlauchten Kosmopoliten des internationalen Reiseverkehrs ein. Wer sie mit eingeweihtem Grif aus der Tasche zog, verwandelte sich insgeheim in einen homespunbekleideten Lord. Das Auge durfte die fürstlichen Expreßstrecken nach Paris, Ostende, London, Rom und Lissabon gelassen in Erwägung ziehen, ehe es bei den preisermäßigten Sonntags-Lokalzügen nach Kuchelbad und Beneschau entschlossen haltmachte. Mit Abscheu sah Hugo Tittels kleinen Finger, einen braunen mumienartigen Finger, der aus einem Grab auferstanden zu sein schien. Aber dieser Finger lief in einen überaus langen, gelben und an der Spitze sich krümmenden Nagel aus, der die betrefenden Verbindungen in den Tabellen langsam unterstrich. Vielleicht war dieser Finger daran schuld, daß Hugo niemals ein Kursbuch recht zu lesen lernte.
    Dies aber war noch nicht alles. Auf der Hasenburg hatte sich Hugo abseits gehalten, er hatte sogar das Opfer gebracht, trotz seiner Schüchternheit und seines Ungeschicks, sich am Spiele anderer Jungen zu beteiligen. Fast hätte er sich gefürchtet, Erna und Zelnik, dem schönen Paar unterm Pfauenrad des Rhododendronbaumes nahe zu kommen, wie man sich fürchtet, einen elektrisch geladenen Gegenstand zu berühren. Aber zugleich hatte die glitzernde Strahlung dieses Paars ihn beunruhigt und begeistert. Tittel jedoch und Erna Tappert waren nichts elektrisch Geladenes. Man konnte ohne weiteres bei ihnen auf der Bank sitzen bleiben und dem vernünftigen Geschwätz zuhören. Warum? Hatte Tittel nicht in den ersten Tagen schon gemeinsame Bekannte, ja sogar einen entfernten Verwandten entdeckt, den er mit Erna teilte? Das Fräulein allerdings schien von dieser Tatsache nur wenig erfreut zu sein, denn sie suchte weiteren Entdeckungen auszuweichen. Stammten beide aus der gleichen Welt, die sich Hugo gar nicht vorstellen konnte? Wenn Erna einst Hugo
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