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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse
Autoren: Franz Werfel
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Durchzieherschmiß auf, weil er heute kriegerisch erglühte. Tittel steckte umständlich und vorwurfsvoll seine Uhr ins Lederfutteral, dann grüßte er mit ersterbender Stimme:
    »Mein liebes Fräulein, ich habe mit Ihnen ernsthaft zu reden, aber schon sehr ernsthaft …«
    Er hatte ›mein Fräulein‹ gesagt. Hugo erschrak vor dieser giftig-matten Stimme, die ihn nach wie vor nicht beachtete, bis ins Herz. Der Ankläger aber säuselte weiter: »Nehmen wir Platz!«
    Wie langsam erstarrend Erna sich niederließ! Hugo rückte an das äußerste Ende der Bank. Tittel aber, der beide Hände auf die gefährliche Stockkrücke stützte, begann weit auszuholen:
    »Ich war aktiv bei einer schlagenden Verbindung, Marbodia! Sie wissen es ja …«
    Das war so hingemurmelt wie die Erwähnung einer Heldentat, von der man, mit gespielter Gleichgültigkeit, kein Aueben macht. Auch ofenbarte die immer leiser werdende Stimme eine Atemnot, eine Seelenerkältung, die sich Tittel an der Schlechtigkeit der Welt zugezogen hatte:
    »Die Anforderungen, die an einen Farbenstudenten gestellt werden, sind gewiß keine Kleinigkeit. In manchen Belangen eine volle Beanspruchung der Persönlichkeit … Aber, mein liebes Fräulein, in puncto Gesundheit habe ich niemals Spaß verstanden. Was das anbelangt, habe ich immer gewußt, was ich will. Schließlich bin ich ein moralischer Mensch …«
    Tittel fröstelte, erhob sich, und, obgleich der Garten unter der Last dumpfer Hitze seufzte, begann er seinen Paletot mit febrischen Bewegungen anzuziehen. Er knöpfte ihn von oben bis unten zu, fuhr in die Taschen und streifte ein Paar alter brauner Glacéhandschuhe über die Finger. Nun zitterte seine Stimme von verhaltener Erbitterung: »Ein einziges Mal bin ich vertrauensvoll und unvorsichtig gewesen in meinem Leben … Ja, ja … Und daß Sie es sind, Erna, gerade Sie, … auf die ich Schlösser gebaut habe! … Luftschlösser allerdings, wie es sich zeigt … Eine herbe Lebensenttäuschung und ein unabsehbares Unglück … ja, ja …«
    Und plötzlich zischte er durch die Zähne:
»Sag mir sofort, mit wem du in der letzten Zeit ver
kehrt hast, du, du …«
Erna packte Hugos Hände:
    »Schweigen Sie! Sie sind ja verrückt!« Und sie fehte: »Der Bub hier …«
    Tittel keifte jetzt hemmungslos auf:
    »Du lügst, du lügst! Ich werde mich schon vergewissern … Es gibt Mittel, dir das Schandwerk zu legen … Es gibt die Polizei … du gemeine Person, du!«
    Erna riß den Knaben hoch und stürmte davon. Mit schweren Tropfen erbarmte sich jetzt ein Regen der Welt. Hugo rannte, ohne Erna einholen zu können. Hinterher erscholl Tittels Haß:
    »Mein schönes Fräulein, Sie haben mich petschiert …«
    In dem Regenpavillon des Parks fanden sich beide, Hugo und Erna. Das Mädchen weinte nicht, aber ihre Zähne klapperten. Die große, ein wenig schwere Gestalt lehnte keuchend an der Holzwand. Sie füsterte wie von Sinnen:
    »Es ist nicht wahr, Hugo, es ist nicht wahr, was er sagt, um Gottes willen, Hugo, glaub es nicht, es ist nicht wahr!« Auch Hugo keuchte von Anstrengung, das Rätsel zu lösen. Ach, wie konnte er denn Erna helfen, da er ja nicht verstand, was die Wahrheit, was die Unwahrheit sein mochte! Die Knie der großen Frau zitterten, sie klammerte sich an den schmächtigen Körper des Kindes:
    »Es ist nicht wahr, Hugo, aber etwas anderes ist wahr, etwas Furchtbares, ja, etwas Schreckliches kommt, Hugo! Was soll ich tun? Ich muß ins Wasser gehn!«
    Scharfe Windstöße töteten den Platzregen. Der aufgeschürfte, durchgewetzte Wolkenhimmel war mit hundert blauen Wunden übersät.
    Zu Hause sperrte sich Erna in ihrem Zimmer ein. Hugo las keine Zeile. Er hatte sich in seine breite Schulbank gesetzt und brütete. Daß Tittel ein Schurke war und irgendwelche niedrige Zwecke verfolgte, daran zweifelte er nicht. Erna hatte beteuert: »Es ist nicht wahr.« Was auch immer nicht wahr sein mochte, er glaubte ihr. Welch ein schweres Leben lastete auf ihr! Sie war in irgend eine Verschwörung dieser erwachsenen Männer verstrickt, die das Werkzeug ihrer Absichten wegwarfen, wenn sie es nicht mehr brauchten. Man hatte ja dergleichen schon gelesen. An Zelniks ›geheime Verhandlungen‹ glaubte Hugo nicht mehr. Er vergegenwärtigte sich den kleinen, grausam zuckenden Schnurrbart des Oberleutnants. Gewiß, er war zum Narren gehalten worden. Man hatte schließlich auch manches von Liebe und Liebesleid gelesen, aber ›Liebe und Liebesleid‹, das war etwas
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