Kindsköpfe: Roman (German Edition)
herrschte dichtes Schneetreiben. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig entdeckte er Wolfram mit seiner Frau, die einander lauthals beschimpften. Bis Petra schließlich ins Auto stieg und davonfuhr. Wütend brüllte Wolfram ihr verschiedene Beleidigungen nach, an denen Lotte ihre helle Freude gehabt hätte. Niklas spannte seinen Schirm auf und beeilte sich zum Auto zu kommen.
Der Schnee begleitete ihn auf seinem Weg zum Friedhof. Die Autos krochen nur langsam vorwärts, und das war ihm sehr recht. Er hatte es nicht eilig, fühlte sich im Gegenteil ganz gut aufgehoben in seinem Wagen. Hier kam ihm niemand zu nahe, und er musste keine Fragen mehr beantworten. Es verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung, bei Tempo 30 durch die Stadt zu schleichen und sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Oliver rief an, doch er drückte ihn weg.
Das Radio dudelte den letzten Karnevalsschlager.
Am Aschermittwoch ist alles vorbei /
Die Schwüre von Treue / Sie brechen entzwei.
Danach kündigte der Moderator einen Bericht vom Prozessauftakt gegen die niedersächsischen Eltern an, die ihr Kind in einem muffigen Kellerraum verdursten ließen. Niklas stellte das Radio aus – er war bereits am Ziel.
Er hatte den ganzen Friedhof für sich, bei dem Wetter verirrte sich sonst niemand dorthin. Die Abgeschiedenheit nutzte er für einen ausgedehnten Spaziergang, bis er sich langsam Inkens Ruhestätte näherte. Der Boden war schneebedeckt, und der Wind hatte die Buchstaben im Grabstein mit dicken Flocken gefüllt. Mit bloßen Händen wischte er sie fort und betrachtete die Inschrift. Der Name Bayer hatte gesiegt, mal wieder.
Niklas nahm das Testament und riss es in viele kleine Stücke, die er dem Wind überließ. Die Papierfetzen vermischten sich mit den weißen Flocken und waren im nächsten Moment verschwunden, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
»Ich habe alles versucht, Schwesterschatz. Es tut mir leid.«
Als er sich auf den Rückweg begab, hatte sich das Wetter beruhigt. An den Schnee erinnerte nur noch eine braune Masse auf den Straßen. Dank der freien Sicht, die jetzt wieder herrschte, nahm er die Werbeplakate am Straßenrand wieder wahr. Eins zeigte eine Frau, die mit einem knallgelben Kleinwagen in einem riesigen Bett lag. Die Fahrertür war so weit geöffnet, dass es aussah, als legte das Auto einen Arm um sie.
Ein Auto zum Verlieben , stand darüber.
Niklas fuhr weiter und versuchte, nicht darüber nachzudenken. Sein Telefon klingelte. Oliver versuchte ihn zu erreichen, doch Niklas wollte nicht mit ihm sprechen. Am Straßenrand entdeckte er ein weiteres Plakat. Dieses Mal war der Wagen ein Cabrio, in Blau. Er stand am Strand, mit offenem Dach, und die Frau räkelte sich leicht bekleidet auf ihrem Sitz, in der Hand einen Cocktail.
Und das Tolle an ihm: Er trinkt fast nie.
Bei der nächsten Kreuzung bremste Niklas und kehrte um. Die Agentur war wie ausgestorben. Kein Mensch auf den Gängen, und nicht mal der Empfang war besetzt. Niklas steuerte Nadjas Büro an, als er einen Knall hörte, gefolgt von Stimmen und Gelächter. Offenbar waren seine Kollegen im Konferenzsaal versammelt.
Niklas entdeckte Fräulein Schwarzkopf zuerst, sie stand mit einem Bein im Flur, um den Eingangsbereich überblicken zu können. Sie winkte ihm zu, doch er bedeutete ihr, ihn nicht zu verraten. Auf Zehenspitzen trat er näher und lugte um die Ecke. Da standen die Kollegen in einer Reihe, mit einem Champagnerglas in der Hand; vor ihnen ging Wittenberg auf und ab und erzählte den Anwesenden eine Anekdote aus seinem ersten Jahr in der Agentur, wo er vor dreißig Jahren als Juniortexter angefangen hatte.
»Geburtstag?«, fragte Niklas.
Die Sekretärin schüttelte den Kopf. »Ausstand.«
Niklas spürte seine Lebensgeister zurückkehren. Neue berufliche Aufgaben waren genau das, was er jetzt brauchte, um sich abzulenken. Gespannt machte er einen Schritt vor, um sich den Anwesenden zu zeigen. Er entdeckte Nadja, die aufgedonnert war, als sei dies ihr Fest. Gerade verschaffte sich der Agenturchef Gehör. Er dankte Wittenberg für die langjährige Mitarbeit und überreichte ihm einen Präsentkorb mit einer Großpackung Buchstabensuppe und ABC-Pflastern. Nach einem Toast applaudierten die Kollegen, und Niklas erwartete, dass sich die Runde nun langsam auflösen würde. Da ergriff der Agenturchef noch einmal das Wort.
»Du hinterlässt eine große Lücke, Alois, aber wir versuchen sie mit einem großen Talent zu … «
Niklas’ Telefon
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