Kindsköpfe: Roman (German Edition)
klingelte, und er beeilte sich, den Anrufer wegzudrücken. Doch seine Kollegen hatten ihn längst bemerkt. Wittenberg drehte sich herum und war offensichtlich erfreut über die Überraschung. Er reichte Niklas die Hand und zog ihn in die Mitte.
»Es freut mich, dass du rechtzeitig wieder da bist, Junge!« Er legte ihm den Arm um die Schultern, und jemand reichte Niklas ein Glas Champagner. Aufgeregt nahm er einen Schluck, und da er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, verdrehte es ihm sofort den Kopf. Er war froh, dass Wittenberg ihn fest hielt, sein väterlicher Freund und Mentor.
Niklas betrachtete ihn voller Liebe und Bewunderung, als er ihn sagen hörte: »Und jetzt lass uns gemeinsam deiner Kollegin Nadja zu ihrem neuen Job gratulieren.«
19 : Kindersegen
Am Himmel tanzte ein bunter Drachen. Niklas beobachtete ihn schon eine ganze Weile von seinem Schreibtisch aus. Mal trug ihn der Wind in diese, mal in jene Richtung, dann schien er ganz plötzlich in den Rhein zu stürzen und verschwand hinter den Bäumen, um wenig später wieder aufzutauchen und noch steiler aufzusteigen.
»Ich fahre dann jetzt zum Shooting.« Es war Mattis, der seinen Kopf zur Tür hereinsteckte und Niklas in die Wirklichkeit zurückholte.
»Viel Spaß! Hast du Fidel gesehen?«
»Liegt im Garten und schnarcht.«
»Was sonst.«
»Wenn ich zurück bin, gehen wir die Entwürfe für den Biomarkt durch, ja?«
Niklas kratzte sich an seinem Vollbart, den er seit dem Urlaub trug, gestutzt auf ein paar Millimeter. Am ganzen Kopf kräuselten sich kleine Löckchen. Möglicherweise gab es bessere Jahreszeiten als den Sommer, um sich die Haare wachsen zu lassen, aber er hatte sich vorgenommen, durchzuhalten. Das gehörte zu seinen Stärken.
»Wie lange haben wir noch Zeit?«
»Die Präsentation ist am Mittwoch.«
Niklas blätterte seinen Kalender um und gähnte. Mittwoch war der 12.Juli.
»Gut, bis nachher.«
Es war Wochenende, aber seit Niklas selbständig war, unterschied sich so ein Samstagnachmittag kaum noch von Mittwochvormittagen oder etwa Freitagabenden. Nach Nadjas Beförderung zum Creative Director hatte er seinen Job gekündigt, die alte Wohnung verkauft und einen langen Urlaub gemacht. Uwe und Kareem hatten ihn überredet, sie nach Ägypten zu begleiten. Die erste Woche wollten sie in einem noblen Hotel in El Gouna verbringen, mit angeschlossenem Lagunenstrand und benachbartem Golfplatz, 18-löchrig; danach war eine Nilkreuzfahrt geplant. Doch schon am zweiten Urlaubstag gingen ihm die beiden gehörig auf die Nerven, weil sie nichts Besseres zu tun hatten, als am Süßwasser-Pool über die nächste Reise zu phantasieren, von der man noch keine konkreten Vorstellungen hatte, außer dass sie noch größer und noch exklusiver werden musste. Bis ein Kind unmittelbar vor ihnen eine Arschbombe machte und Uwes Freund nassspritzte, der über der Badehose ein weißes Seidenhemd trug, das keine Wasserflecken vertrug. Nachdem Kareem die verdutzten Eltern auf Arabisch beschimpft hatte, verschwand er ins Hotel, um sich umzuziehen. Als er an den Pool zurückkehrte, war Niklas schon auf dem Zimmer seine Sachen packen. Noch am Abend flog er nach Mallorca, um sich in Ellens Casita zurückzuziehen und den ersten Bart seines Lebens zu züchten. Er sprach mit niemandem in der Zeit, sein Handy blieb ausgeschaltet, und als er bei einem Spaziergang zur Bucht der irischen Bildhauerin mit ihren Kindern begegnete, bog er schnell in einen Seitenpfad ein, wo er sich hinter einem Baum verbarg, bis sie fort waren.
Nach gut zwei Wochen setzte die Langeweile ein, und das Bedürfnis, neue Pläne zu schmieden, wurde von Tag zu Tag dringender. Er führte ein paar Telefonate mit seiner Bank und kehrte schließlich nach Düsseldorf zurück. Als Mattis ihn vom Flughafen abholte, hätte er Niklas unter seinem wild sprießenden Bart fast nicht erkannt.
Noch auf der Fahrt erzählte Niklas, dass er eine Agentur gründen wolle, und bot seinem alten Freund die Partnerschaft an. Einen Monat später, kurz vor dem dritten Verhandlungstag, waren sie mit Fidel in das Haus am Rhein gezogen. Im unteren Stockwerk hatten sie ihre Büros eingerichtet, oben befanden sich die Wohnräume. Im Turmzimmer hatte Niklas sein Bett aufgestellt; von hier konnte er auf den Rhein sehen, und in der Nacht zählte er die Lichter des Fernsehturms, bis er einschlief.
Als er Mattis auf seinem Motorrad davonknattern hörte, starrte Niklas noch immer auf den Kalender. Seit Wochen schon plagte
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