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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher
Autoren: Paul Grossman
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nicht.« Sie senkte den Blick, verlegen, wie es schien, weil sie eine so bedauerliche Nachricht überbringen musste.
    »Danke. Sehr freundlich von Ihnen, es mir zu sagen.« Kraus nickte. Er wusste sehr gut, dass sich bei Zvis Arbeit Pläne so schnell änderten wie der Wind. Die Frau ging jedoch nicht. Stattdessen zog sie einen Stuhl heran und setzte sich an seinen Tisch.
    »Deshalb bin ich aber nicht gekommen, Herr Inspektor. Ich habe Ihnen nur die Nachricht von diesem Mann dort übermittelt.«
    Moishe, der Oberkellner, den Kraus sehr gut kannte, nickte vom Eingang des Cafés zu ihm herüber.
    »Verstehe«, erwiderte Kraus. Ihm fiel jetzt erst auf, wie schön sie war. Ihr sehniger Körper und ihre braune Haut erinnerten ihn an eine Wüstengazelle, die selbst auf dem felsigsten Untergrund sicheren Halt fand. »Wie kann ich Ihnen dann helfen, Mrs. ...?«
    »Ich bin Sozialarbeiterin bei der jüdischen Behörde. Ich heiße Leah.« Ein Hauch von Lavendel wehte zu ihm herüber. »Es ist etwas passiert, worüber ich mit Ihnen reden muss.« Die olivbraunen Augen warfen einen kurzen Blick über ihre Schulter. »Vor einer Woche.« Sie richteten sich wieder auf Kraus. »Einfach so«, sie schnippte mit den Fingern, »hat eine meiner Klientinnen all ihre Erinnerung verloren. Sie war noch da, als sie schlafen ging, aber als sie am nächsten Morgen aufwachte, hat sie niemanden mehr erkannt, nicht einmal sich selbst.«
    »Wie schrecklich! Hatte sie vielleicht einen Schlaganfall? Sie haben sie doch zu einem Arzt gebracht?«
    »Behandeln Sie mich bitte nicht so herablassend«, gab die junge Frau gereizt zurück.
    Diese Leah, das hatte Kraus bereits begriffen, war eine Sabra, eine Jüdin, die im Heiligen Land geboren war und die man nach dem Kaktus benannte, der überall und selbst auf dem trockensten Boden wuchs. Er war außen stachelig und innen angeblich süß.
    »Sie war bei den besten Spezialisten. Bei mehr als einem. Alle sind sich einig, dass es kein Schlaganfall war. Und außerdem sind sie offenbar auch alle einer Meinung, dass sie keinerlei Erklärungen dafür haben.«
    »Und warum kommen Sie zu mir?«
    Die Frau lächelte schwach, und der Blick ihrer dunklen Augen wurde weicher. »Weil ich gehört habe, dass Sie auf solche Dinge spezialisiert sind. Auf medizinische Rätsel. Bitte fahren Sie mit mir nach Beersheva und sehen sich die Frau wenigstens einmal an.«
    Etwas in dem schimmernden Blick ihrer Augen berührte eine Saite in Kraus’ Herz und versetzte ihn erneut in die Vergangenheit. Er konnte praktisch immer noch diesen frischen Herbsttag im Park in Berlin spüren. Das Geburtstagsessen von Opa Max. Diese furchteinflößende Parade der Hitlerjugend. Als sie nach Wilmersdorf zurückgekommen waren, hatte er Vicki zum Essen ausgeführt. Den Rest des Abends hatten sie zu Hause verbracht und zum ersten Mal seit Wochen wieder miteinander geschlafen. So zärtlich. So leidenschaftlich und verspielt. Und wie dankbar er im Rückblick war, dass er keine Ahnung gehabt hatte, dass es das letzte Mal gewesen sein sollte.
    Am nächsten Morgen hatte Vicki sich mit einer Freundin in einem Café am Joachimsthaler Platz getroffen. Sie hatte in der Nähe eines Fensters gesessen, als ein Lastwagen gegen den Bordstein krachte und umkippte. Eine Scherbe des zerborstenen Fensters hatte ihre Halsschlagader durchtrennt, und sie war innerhalb von nicht einmal einer Minute verblutet.
    »Beersheva ist nicht mein Zuständigkeitsbereich, Leah. Tut mir leid.« Kraus wandte den Blick ab.
    Sie griff über den Tisch und berührte sanft seinen Arm. »Es wird nicht lange dauern. Bitte. Es ist wichtig. Sie lebt mitten in der Wüste in einer Siedlung, die vom Feind umzingelt ist, und es gibt dort nur sehr wenig Schutz. Es wäre sehr einfach für jemanden gewesen, durch den Zaun zu schleichen und ... na ja, ich weiß nicht, was sie getan haben.«
    »Sie wollen sagen, Sie glauben, jemand hat ihr das angetan?«
    Leah zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig. »Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Es gibt keinen besseren Kriminalinspektor in ganz Palästina, das weiß jeder. Das ist doch ein ganz fürchterliches Schicksal, wenn man darüber nachdenkt, hab ich recht, Inspektor? Ich meine, was sind wir ohne Erinnerungen?«
    Darüber wollte Kraus aber gar nicht nachdenken. So schlecht klang Amnesie in seinen Ohren nicht. Es gab viele Dinge, von denen er sich manchmal wünschte, dass er sich nicht an sie erinnern könnte.
    Er wollte, dass Leah wegging. Plötzlich
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