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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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möge.
    Nach der letzten Strophe blieb es in der Stube lange still. Die Frauen waren in der Stimmung gefangen, hier und da glitzerte es noch verräterisch feucht auf den Wangen; alle hatten mit dem Sticken und Nähen innegehalten und sich ganz auf das Lied eingelassen.
    »Es ist eine Gabe, Jitka«, seufzte die Tagelöhnerin. »Eine Gabe, die du vom lieben Gott bekommen hast. Danke ihm jeden Tag für diese Stimme, kleine Nachtigall.«
    Eine andere Frau fuhr ihr durch die langen schwarzen Haare, als Jitka sich hinsetzte und das Kuchenstück nahm, das ihr zum Lohn für die Darbietung gereicht wurde. Es war ein trockener, süßer Kuchen, der nach Eiern und viel Butter schmeckte; dazu trank sie einen Becher Milch. »Du tust mir so leid. Was gäbe ich darum, dir helfen zu können.«
    »Niemand kann uns helfen, es sei denn, er hätte eine Armee dabei, die stark genug ist, die Türken aus dem Land zu fegen«, wetterte Anna, eine alte Magd mit tiefen Falten im Gesicht, die schon viele Jahre im Lohn des Großbauern stand. »Mir haben sie meinen ältesten Jungen genommen und ihn zu einem Muselmanen gemacht.«
    »Wann war das?«, fragte Jitka sofort.
    Anna betrachtete sie. »Mein Junge war damals neun Jahre alt, heute wäre er einunddreißig. Ich würde ihn nicht mehr erkennen, selbst wenn er vor mir stünde. Zum Teufel mit der Knabenlese! Seit vielen Jahren stehlen sie unsere Kinder und berauben uns unserer Besten. Mein Junge war sehr gescheit, er hätte es weit gebracht. Wer weiß, ob er überhaupt noch lebt.« Anna nippte an ihrem Becher. »Ich kann nicht einmal um ihn trauern.« Sie senkte den Kopf.
    »Ich habe gehört, dass es Branco war, der Janja mitgenommen hat«, sagte Anka, eine jüngere Magd. »Waren er und sie nicht Spielgefährten?«
    »Er hat gesagt, er heißt jetzt Mohammad«, berichtigte Jitka sie mit vollem Mund.
    »Sie geben den Christenkindern andere Namen und treiben ihnen alles aus, was sie vorher gelernt haben«, sagte Anna bitter. »Sie haben Branco beschnitten, am Körper und an seiner Seele, haben ihm unseren Glauben genommen und zu einemvon ihnen gemacht … wie meinen Jungen.« Sie bedeckte die Augen mit ihrer freien Hand. »Ach, der Teufel soll sie holen«, sagte sie schließlich und wischte ihre Tränen mit einem Schürzenzipfel weg.
    Jitka seufzte. Annas Traurigkeit griff auf sie über, das Kauen fiel ihr immer schwerer. Der leckere Kuchen hatte auf einmal seinen Geschmack verloren.
    »Es ist nicht richtig, dass man sie mitgenommen hat und sich der Kadi nicht für sie einsetzt«, meinte die junge Magd namens Svanja. »Sie hat nichts von dem Jungen auf dem Dachboden gewusst.«
    Anna warf ihr einen Blick zu, der sie zum Schweigen bringen sollte, aber es war zu spät. Bisher hatten die Frauen nie über Janja gesprochen, zumindest nicht, wenn Jitka anwesend war. Sie vermutete, dass sie es aus Rücksicht taten. Aber ihr unglückliches Gesicht und die Stimmung, die ihr Lied im Raum geschaffen hatte, lösten anscheinend Svanjas Zunge.
    »Ich habe gehört, dass man so etwas mit Geld regeln kann«, schlug eine andere Magd vor. »Die Beamten des Sultans sollen gerne die Hand aufhalten und dafür so manches vergessen.«
    Jitka spülte die letzten Krümel mit Milch aus dem Mund, schluckte und sagte bang: »Wir haben aber kein Geld. Nur unser Häuschen.« Vor ihrem geistigen Auge sah sie die winzigen, spärlich eingerichteten Kammern vor sich, den Ruß der Kerzen und des Ofens. »Wir bekommen bestimmt nicht viel dafür. Und wo sollen wir denn schlafen, wenn …« Sie schniefte.
    »Ach herrje, du armes Menschenkind!« Anna legte das Stickzeug rasch beiseite und zog Jitka zu sich auf den Schoß; sie roch wie immer nach Schnaps. »Keine Verwandten, keine Geschwister, keinen Vater, und jetzt haben sie dir auch noch die Mutter geraubt.« Sie fuhr dem Mädchen über die Haare.
    Svanja hatte die Augen auf das Feuermal gerichtet und gabsich Mühe, das Kreuz so unauffällig wie möglich zu schlagen, aber Anna hatte es bemerkt.
    »So ein Unfug«, herrschte sie die jüngere Magd an. »Die Kleine hat keinen bösen Blick. Wer eine so schöne Stimme hat, trägt nichts Böses in sich.«
    »Das habe ich auch gar nicht gesagt«, erwiderte Svanja sofort und errötete, weil sich alle zu ihr herumdrehten.
    Jitka war die Ausgrenzung gewohnt und kannte dieses abergläubische Misstrauen, das in den letzten Jahren immer weiter zugenommen hatte. Es zeigte sich, indem die Bewohner der Stadt ihr und Janja auf der Straße auswichen und ein
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