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Kesrith – die sterbende Sonne

Kesrith – die sterbende Sonne

Titel: Kesrith – die sterbende Sonne
Autoren: C.J. Cherryh
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ihn seit dreiundvierzig Jahren, seitdem sie gleichzeitig ihre Kraft und ihre Schönheit in den Feuern des brennenden Nisren verloren hatte. Selbst damals war sie nicht mehr jung gewesen. Selbst damals schon war sie She'pan der Heimatwelt gewesen, Herrscherin über alle drei Kasten des Volkes. Sie gehörte zur ersten Reihe des Sen, stand über Sathell, ebenso über den anderen She'panei, den wenigen, die noch lebten. Sie kannte die Mysterien, die den anderen verschlossen waren; sie kannte den Namen und das Wesen des Heiligen und der Götter; und die Pana, die Verehrten Gegenstände, befanden sich in ihrem Gewahrsam. Ihr Wissen umfaßte Tiefe und Weite, Geburt und Bestimmung ihrer Nation.
    Sie war She'pan eines sterbenden Hauses, älteste Mutter einer sterbenden Art. Das Kath, die Kaste der Kindergebärer und Kinder, war tot, sein Turm dunkel und seit zwölf Jahren geschlossen. Die letzte der Kath'ein ruhte schon lange in den Felsen von Sil'athen, und die letzten Kinder, mutterlos, abgesehen von ihr, waren ihrer Bestimmung nach draußen gefolgt. Die Zahl ihres Kel war auf zehn gesunken, und das Sen...
    Das Sen befand sich vor ihr: Sathell, der Älteste, der Sen'anth, dessen schwaches Herz ständig nur einen Schlag von der Dunkelheit entfernt war; und das Mädchen, das im Moment zu ihren Füßen saß. Sie, die Lichtträger, die Hochkaste, trugen die goldenen Gewänder. Intels eigene Gewänder waren weiß, unbeeinträchtigt durch die Kontraste des Schwarz, Blau und Gold in der Kleidung der geringeren She'panei. Deren Wissen war fast vollständig, während ihres umfassend war. Würde ihr Herz in diesem Augenblick stehenbleiben, wäre dem Volk so viel, so unberechenbar viel verloren. Die Überlegung, wieviel in jedem Herzschlag und jedem Atemzug auf ihr ruhte, war furchteinflößend inmitten solcher Qual.
    Daß Haus und Volk nicht sterben!
    Das Mädchen Melein blickte zu ihr auf – Melein s'Intel Zain-Abrin, die einmal Kel'e'en gewesen war, das letzte aller Kinder. Gelegentlich zeigte Melein noch die Heftigkeit des Kel, wenn sie auch äußerlich die Gewänder und die Kastenheiterkeit des gelehrten Sen angenommen hatte, wenn auch die Jahre ihr andere Fähigkeiten geschenkt hatten und sich ihr Geist weit über die Einfachheit einer Kel'e'en hinaus entwickelt hatte. Intel strich über Meleins Schulter, eine Liebkosung. »Geduld«, riet sie, als sie Meleins Angst sah, und sie wußte, daß der Rat in jeder Beziehung abgelehnt werden würde.
    »Laß mich Niun suchen und mit ihm reden«, bat das Mädchen.
    Bruder und Schwester, Niun und Melein – und sie waren eng verbunden, obwohl sie durch das Gesetz und den Erlaß der She'pan und die Kaste und die Gebräuche getrennt worden waren. Kel'en und Sen'e'en, dunkel und hell, Hand und Geist; aber in Herz und Blut waren sie dasselbe. Intel erinnerte sich an das Paar, dem diese beiden das Leben verdankten, ihren jüngsten und am meisten geliebten Ehemann und eine Kel'e'en von Guragen, beide jetzt verloren. Sein Gesicht, seine Augen, die sie durch die Augen Meleins und Niuns wieder anblickten, hatten sie die Keuschheit einer She'pan bedauern lassen, und sie erinnerte sich daran, daß er auch einen starken Willen gehabt hatte, heißblütig und klug gewesen war. Vielleicht haßte Melein sie; sie hatte den Befehl, das Kel zu verlassen und dem Sen beizutreten, nur unwillig entgegengenommen. Aber sie zeigte jetzt keinen Trotz, obwohl die She'pan danach suchte. Melein zeigte nur Angst, nur einen natürlichen Kummer um den Schmerz ihres Bruders.
    »Nein«, erwiderte Intel scharf, »ich befehle dir, ihn allein zu lassen.«
    »Er könnte sich etwas antun, She'pan.«
    »Das wird er nicht. Du unterschätzt ihn. Er braucht dich jetzt nicht. Du gehörst nicht mehr zum Kel, und ich bezweifle, daß es ihm im Augenblick recht wäre, einer des Sen gegenüberzustehen. Was könntest du ihm auch sagen? Was könntest du ihm antworten, wenn er dir Fragen stellte? Könntest du schweigen?«
    Das saß. »Vor sechs Jahren wollte er Kesrith verlassen«, sagte Melein, in deren Augen unvergossene Tränen schimmerten; und möglicherweise war es nicht nur die Sache ihres Bruders, für die sie jetzt sprach, sondern auch ihre eigene. »Du wolltest ihn nicht gehen lassen. Jetzt ist es zu spät, She'pan. Es ist auf immer zu spät für ihn, und was kann er für sich selbst erwarten? Was gibt es für ihn?«
    »Denke darüber nach«, sagte Intel, »und teile mir deine Antwort mit, Sen Melein s'Intel, nachdem du einen Tag
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