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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst
Autoren: Frank Schätzing
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Ferne.
    »Dieser Whiskey. Man schmeckt eine ganze Welt«, sagte er. »Ich bin so oft in Irland gewesen, so gerne. Tja. Da werd ich wohl kaum noch mal hinkommen. Bin mittlerweile selber so verfallen wie die aufgelassenen Häuschen an den Küsten Mayos und Sligos. Weißt du, auch die irischen Dörfer sind an einem Krebs gestorben, an der Verlassenheit.«
    Er sah Schlemmers verständnislosen Blick und zuckte die Achseln. »Wenn du über die Welt nachdenkst und dir bewußt machst, daß sie ohne dich nicht anders weiterexistieren wird als zu deinen Lebzeiten, das ist schon komisch. Du gehst am Dom vorbei und denkst, Mensch, der gehört ja irgendwie ein bißchen dir, weil seine Fundamente so tief in deinem Herzen wurzeln. Aber wenn du tot bist, wird er immer noch genauso dastehen. Und plötzlich kapierst du, daß dir gar nichts gehört. Es wird Leben und Treiben herrschen, aber ohne dich. Es wird Tag und Nacht werden, aber ohne dich. Es wird Krieg und Frieden geben, aber ohne dich. Ohne dein großes Herz. Nichts wird sich ändern. Ich muß sagen, daß mich der Gedanke anfangs sehr erschreckt hat. Sie werden diesen Whiskey destillieren. Leute werden ihn kosten. Die Welt wird schön sein. Ja, verdammt, sie wird kein bißchen weniger schön sein, bloß weil es dich nicht mehr gibt, kein kleines winziges bißchen! Du stirbst unbemerkt von allen, die dich nie gekannt haben und für die dein Tod bedeutungslos ist, und du fragst dich, ob du jemals bedeutungsvoll warst, für irgendwen oder irgendwas. Kannst du dir das vorstellen, Schlemmer? Du verreckst im Angesicht der Frage, ob du von Bedeutung warst, mit einem Nein!«
    »Mein Gott, Koch«, sagte Schlemmer. »Wer redet denn vom Sterben?«
    Koch schüttelte den Kopf.
    »Ich rede nicht vom Sterben. Ich rede vom Dasein und Wegsein. Weißt du, in Irland gibt es alte keltische Hochkreuze, die messen viele Meter. Du setzt dich ins Gras und lehnst dich mit dem Rücken gegen so ein altes moosiges Steinkreuz mit seinen gelben Flechtenkulturen, um über alles mögliche nachzudenken, was du noch tun mußt und was wichtig ist, und du wirst immer ruhiger dabei. Du richtest deinen Blick über die See dorthin, wo du die Hebriden vermutest und an schönen Tagen vielleicht sogar siehst, und etwas sagt dir, daß dieses Kreuz schon da war, als du noch nicht mal die Möglichkeit hattest, geboren zu werden, nicht mal deine Ureltern die Möglichkeit hatten, geboren zu werden. Und daß es wahrscheinlich noch dastehen wird, wenn du eins geworden bist mit dem Humus unter dir. Die Welt ist so … so unbeeindruckt von einem Menschenleben und davon, daß es endet, sie geht so desinteressiert darüber hinweg … und ich frage mich, wie ich das finden soll. Wie findest du das?«
    »Was?« Schlemmer schreckte auf. Er hatte nicht richtig zugehört. In seinem Kopf stritten jugoslawische Schlägertrupps und mitleidlose Bankbeamte um die Vorherrschaft. »Ich meine, du solltest mir erst mal erzählen, wie es dir überhaupt geht.«
    Koch lächelte.
    »Ich bin ja dabei«, sagte er. »Aber egal. Erzähl du mir erst mal was. Vom Hänneschen. Und von dir.«
    Das Glöcklein erklang, und Pavlov triumphierte: Schlemmer verfiel in den üblichen Erzählrausch, zitierte Shakespeare, gab seiner Meinung über Kunst und Kultur Ausdruck, beschrieb gestikulierend die Annehmlichkeiten der Liebe, dramatisierte, beschönigte und übertrieb, log und verbog und führte Koch durch Dutzendschaften potemkinscher Dörfer. Wie er es liebte, sich zuzuhören, während sich die Zeit davonmachte! Plötzlich hatte er keine Eile mehr, wegzukommen. Über so vieles redete er, daß Koch mehrfach nachschenken mußte, und plötzlich begann er sich wohlzufühlen in dieser Puppenhöhle, holte aus zu immer neuen Monologen und schaffte es, Stunden verstreichen zu lassen.
    Koch hielt den Kopf leicht geneigt, hörte zu und schien im ganzen zufrieden.
    Dann, von einem Moment auf den anderen, passierte etwas Unerhörtes und nie Dagewesenes.
    Schlemmer gingen die Worte aus.
    Eine Weile herrschte Schweigen, segmentiert vom Ticken der Uhr.
    »Du wolltest mir erzählen, wie es dir geht«, sagte Schlemmer schließlich. Der Whiskey hatte seine Zunge anschwellen lassen. Oder war seine Mundhöhle kleiner geworden?
    »Wie es mir geht … danke, im Moment nicht schlecht. Habe dich reden hören und hab’s genossen, Schlemmer. Du bist wie die Welt, von gleicher Belanglosigkeit und dennoch irgendwie bedeutungsvoll. Darum wollte ich, daß du kommst. Wenige Stunden mit
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