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Keine Angst

Keine Angst

Titel: Keine Angst
Autoren: Frank Schätzing
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er vorsichtig. »Ich hab dir eben vielleicht nicht die ganze Wahrheit erzählt. Will sagen, was meine Situation betrifft.«
    Wenn bloß seine Zunge nicht so taub und schwer gewesen wäre!
    »Also, es ist so, ich habe …«
    Weiter kam er nicht. Koch hatte ebenfalls aus dem Fenster gesehen und stand plötzlich taumelnd vor ihm.
    »Schlemmer, ich will den Sonnenaufgang sehen!«
    »Hä?«
    »Irgendwo, wo’s schön ist.«
    Der Whiskey hatte seine Wirkung getan. Kochs klare Aussprache war dahin.
    »Warte«, rief Schlemmer. »Wir müssen über was reden.«
    »Können wir ja. Komm.«
    »Wohin?«
    Koch tapste zu dem Schrank mit den Spirituosen, aus dem die leergetrunkene Flasche Whiskey stammte, und entnahm ihr eine zweite.
    »Wir nehmen mein Auto und fahren zum Decksteiner Weiher.«
    »Zum Decksteiner Weiher? Bist du noch gescheit? Wir sind beide so betrunken, daß wir allenfalls in den Decksteiner Weiher fahren.«
    »Kannst mitkommen oder nach Hause gehen.« Koch fletschte die Zähne. »Wenn du was mit mir bereden willst, wirst du allerdings mitkommen müssen. Ich hab womöglich nicht mehr so viele Sonnenaufgänge zu bestaunen wie du.«
    »Gut«, fügte sich Schlemmer. »Ich rufe uns ein Taxi.«
    »Quatsch. Ich fahre.«
    »Vergiß es, Herrgott noch mal! Du kannst nicht fahren. Du bist besoffen.«
    »Ich bin besoffen vom Leben und nüchtern von der Feststellung, daß es mißraten ist. Kommst du jetzt mit oder nicht?«
    Schlemmer setzte zu einer Antwort an, quälte sich fluchend aus der fleischfressenden Pflanze, die ein Sessel zu sein vorgab, und wankte Koch hinterher.
    Zehn Millionen. Dafür wäre er sogar bis an die Nordsee mit dem Alten gefahren.
    Seine Augen brannten.
    »Heil dir, Macbeth, Heil«, murmelte er. »Heil dir, Than von Glamis, Than von Cawdor, dir, künft’gem König Heil!«
    So gut er eben noch konnte, eilte er Koch hinterher, der bereits im Hausflur war.
    Sie fuhren durch den milchigen Morgen stadtauswärts und hatten die Straße für sich. Koch pfiff unmelodisch vor sich hin. Nichts ließ darauf schließen, daß er eine halbe Flasche Whiskey absorbiert hatte. Er überfuhr keine rote Ampel, hielt sich brav an die Geschwindig-keitsbeschränkung und steuerte seinen Uraltmercedes mit dem abblätternden Lack über den Radkästen wie einen freundlichen Seniorendampfer.
    Schlemmer hing im Beifahrersitz und blinzelte. Seine Rechte hielt die Flasche umfaßt. Er dachte fieberhaft nach, wie er die Rede wieder auf das Geld bringen konnte. Ein schwelender Zorn hatte von ihm Besitz ergriffen. Es war ihm gleich, ob der Alte die Miederwaren hochgejagt hatte oder nicht. Aber daß er zehn Millionen besaß, die nutzlos herumlagen, während ihm, Schlemmer, die Knochenbrecher auf den Fersen waren, ohrfeigte sein Selbstverständnis. Das war unanständig. Koch hatte Krebs, warum konnte er nicht sterben, wie es sich gehörte, und ihm den ganzen Zaster vermachen?
    Mißmutig starrte er aus dem Seitenfenster.
    Sie parkten in unmittelbarer Nähe des Kahnteichs unter den Bäumen. Schräg gegenüber spiegelte sich das Haus am See im quecksilberfarbenen Wasser. Schlemmer schloß die Augen und lauschte dem Knacken des erkaltenden Motors.
    »Gib mir die Flasche«, sagte Koch.
    Schlemmer reichte sie ihm wortlos rüber. Nacheinander nahmen sie jeder einen tiefen Zug und sahen auf den See hinaus.
    »Schön hier«, sagte Koch.
    »Ja«, knurrte Schlemmer. »Sicher.«
    Der Alte wandte ihm sein Gesicht zu. Es war rot und aufgedunsen.
    »Was wolltest du mich eigentlich fragen?«
    Schlemmer wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und ließ die Beifahrertür aufschwingen. Warme Sommerluft drang herein.
    »Ich wollte dich fragen, was du mit dem Geld gemacht hast.«
    »Ach ja.« Koch lächelte. »Versteckt. Hab ich das nicht erzählt?«
    »Doch! Hast du! Und das weißt du verdammt gut.«
    Mühsam gelang es Schlemmer, sich aus dem Sitz zu wuchten. Mit schleppenden Schritten ging er bis zum Ufer, was ein paar Enten veranlaßte, sich diskret zurückzuziehen. Er fühlte sich hundeelend, aber das kam nicht allein vom Whiskey. Es kam vom Geld und vom Mißerfolg und von der Ungerechtigkeit der Welt.
    Hinter sich hörte er den Kies unter Kochs Schuhen knirschen, als der Alte ihm nachkam.
    »Hab’s verstaut«, sagte Koch. »So, daß es mir keiner wegnehmen konnte. Ich war mit Sicherheit ein bißchen wahnsinnig damals. Einsam und bitter, aber eben auch verrückt. Wie sonst wäre es zu erklären, daß ich in meiner Besessenheit sogar mir selber den
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